Der Pestengel von Freiburg
hinunter in den Hof. Das erste Morgenlicht tauchte die umliegenden Mauern und Häuser bereits insilbriges Grau. Es war bitterkalt. Vom Haus der Grünbaums nebenan hörte er dumpfes Poltern und Klopfen. Es klang, als würde jemand die Dielenbretter herausreißen, aber darum konnte er sich jetzt nicht kümmern.
Das kurze Stück bis zum Haus Zum Rosbaum rannte er, so schnell er konnte, während ein vollbeladener Pestkarren mit gedämpftem Rumpeln an ihm in Richtung Christoffelstor vorbeizog. Die hochgewölbte Plane verriet die Ausbeute dieser Nacht. Ansonsten war die Straße menschenleer und still, bis auf das Knacken der Feuerstellen ringsum.
Er unterdrückte ein Schluchzen. Warum jetzt auch noch seine Mutter? Warum konnte die Seuche seine Familie nicht in Frieden lassen, wo sie sich den Vater doch schon geholt hatte? Er hämmerte den Eisenring gegen den Türflügel des herrschaftlichen Hauses, das er zum letzten Mal zusammen mit seinem Vater betreten hatte, als der alte Tucher erkrankt war. War das wirklich erst drei Monate her? Ihm kam es vor wie Jahre.
«Mechthild – Gevatterin – mach auf!», rief er. «Ich bin’s, Benedikt.»
Der Gestank, der über der Gasse lag, verursachte ihm plötzlich Übelkeit, während er klopfte und klopfte und dabei nach Mechthild rief. Was, wenn auch sie die Pestilenz hatte? Einen Knecht oder eine Magd, die ihm öffnen würden, gab es im Tucher’schen Haus schon lange nicht mehr.
Endlich ging im oberen Stockwerk ein Fenster auf. Zu Benedikts Überraschung schob sich das verschlafene Gesicht von Herrmann Tucher, Meinwarts ältestem Bruder, über die Fensterbank.
«Hast du einen Sparren zu viel, halb in der Nacht so einen Radau zu machen?»
«Wo ist deine Mutter?»
«Im Bett, wo sonst?»
«Weck sie auf, es ist dringend.»
«Einen Teufel werd ich tun.»
Das Fenster schlug wieder zu. Kein Vaterunser später öffnete sich die Haustür. Mechthild stand vor ihm, fertig zum Ausgehen in langem Umhang und Lederschuhwerk. Das Leinengebende um den Kopf ließ ihr blasses Gesicht noch kleiner und zarter erscheinen. Ihre hellen, runden Augen blickten ihn erschrocken an.
«Steht es schlecht um Clara?»
«Ja – diese schwarzen Flecken …»
«Habt ihr noch ausreichend Essig und Wein im Haus?»
«Ich weiß nicht.» Benedikt musste an sich halten, nicht in Tränen auszubrechen.
Mechthild wandte sich um in die dunkle Eingangshalle. «Herrmann?»
Von oben war ein unverständliches Maulen zu hören.
«Los, komm runter. Ich brauche deine Hilfe.»
Auf nackten Beinen, das kurze Hemd voller Flecken, tapste Herrmann bald darauf heran. Sein verquollenes Gesicht sah aus, als hätte er die ganze Nacht durchgesoffen.
«Was soll das? Kann man in diesem Haus nicht mal ein paar Stunden am Stück schlafen?»
«Hol das Fässchen Essig aus dem Keller und bring es ins Haus der Grathwohls.»
«Jetzt? Bin ich denn dein Knecht?»
«Jetzt sofort! Noch ist das hier mein Haus», herrschte sie ihn an, und Benedikt wunderte sich über den Tonfall der schmächtigen Frau. Tatsächlich verschwand Herrmann ohne Widerworte im Dunkel der Diele.
«Sein Meister hat ihn aus dem Haus gejagt», sagte sie leise zu Benedikt. «Seither liegt er mir wieder auf der Pelle.»
Entschlossen nahm sie ihre Tasche unter den Arm, zog die Tür hinter sich zu und ging energischen Schrittes voran in den nasskalten Morgen. Benedikt ahnte, dass ab jetzt sie das Zepter in der Hand halten würde. Das hatte fast etwas Beruhigendes.
Zurück in seinem Elternhaus, schob sie ihn in die Küche. Im Stockwerk über ihnen war alles still.
«Mach Feuer und setz Wasser auf. Wo habt ihr sauberes Bettwerk?»
«In der kleinen Truhe in Mutters Schlafkammer.»
«Gut. Ich bring dir nachher die alte Wäsche herunter, wir müssen sie kochen.»
Aus ihrem Lederschlauch goss sie Essigwasser in ein Schälchen und tränkte darin das Tuch, das sie sich anschließend vor das Gesicht band. Dann legte sie dünne lederne Handschuhe an.
«Hat sie ausreichend zu trinken?»
Benedikt nickte. Als sie die Küche verließ, wollte er ihr folgen.
«Du bleibst hier und wartest auf Herrmann. Wenn er das Essigfass gebracht hat, musst du mir helfen, die Schlafkammer zu reinigen und zu räuchern.»
Während Benedikt die Glut anfachte und Holz nachlegte, versuchte er sich einzureden, dass die Verfärbungen am Arm seiner Mutter auch vom Liegen kommen konnten oder weil sie sich im Schlaf irgendwo gestoßen hatte. Vielleicht hatte er sich die dunklen Flecken ja
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