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Der Pestengel von Freiburg

Der Pestengel von Freiburg

Titel: Der Pestengel von Freiburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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für jeden Leichnam einen Obolus erhielten. «Bringt eure Toten heraus!», ertönte nachts ihr Ruf unter den Fenstern. Doch zuallermeist brachte niemand die Toten heraus, und die Männer mussten selbst die nackten, blutgeschwärzten Leichname aus den Häusern tragen, oft mehrere auf ein Brett gepackt. In manchen Nächten stapelten sich die Toten an den Straßenecken, bevor der nächste oder übernächste Pestkarren sie aus der Stadt schaffte.
    Längst nämlich war der Friedhof vor der Pfarrkirche, wo es trotz dicker Schichten Sand und Erde erbärmlich stank, überfüllt, und man hatte draußen vor den Mauern fünf Fuß tiefe Gruben ausgehoben, in die man die Leichen warf und mit Kalk überschüttete. Keiner folgte mehr den alten Bräuchen, niemand trug die Toten mehr zu Grabe. Zu schnell ging das Sterben, und mehr als einmal erlebte Clara, wie im Morgengrauen ein Mensch laut klagend und weinend am Rand des Pestackers kauerte und schon am Abend selbst tot war. Mehr als einmal musste sie mit ansehen, wie Alte und Junge auf offener Straße zusammenbrachen, mit einem letzten müden Blick zum Himmel, bevor das Auge brach.
    Niemand wusste, wem der Tod als Nächstes seine Knochenhand auf die Schulter legen und mit sich nehmen würde. Wen er noch verschont hatte und wer noch wagte, auszuharren in dieser Stadt der Toten, der ergab sich seinem Schicksal und Gottes Willen – ein Morgen schien es nicht mehr zu geben, und damit fand man sich ab. Der eine tat dies unter Tränen und Wehgeschrei, der Nächste in dumpfer Teilnahmslosigkeit, und der Dritte, im Glauben an Gott und die Kirche erschüttert, spottete und lachte nur mehr. Von dieser Art gab es nicht wenige, Männer ebenso wie Frauen, und sie hetzten vonVergnügen zu Vergnügen, lechzten nach Ausschweifung und Reichtum, wie um diesem flüchtigen Leben noch eine letzte Freude abzupressen.
    Immer häufiger, wenn Clara und Mechthild sich abends erschöpft auf den Heimweg machten, vernahmen sie aus den Schankstuben laute Musik, Gesang und Gelächter. Bis weit in die Nacht waren die Trinkstuben und Tavernen inzwischen geöffnet, und dass es dabei nicht nur ums gesellige Zechen ging, um Würfel- und Glücksspiel, zeigte sich mit einem einzigen Blick durch die geöffneten Fenster. Seitdem auch der Frauenwirt der Pestilenz zum Opfer gefallen war, strömten die Huren in die Wirtshäuser und setzten sich gänzlich ungeniert mit ehrbaren Bürgern an einen Tisch, ließen sich öffentlich küssen und begrapschen, und nicht selten waren Mönche und geistliche Herren mitten dabei. Ganz offensichtlich bekümmerte sich niemand mehr um seinen guten Ruf.
    Einmal, an einem Samstag gegen Ende des ersten Herbstmonats, wurde Mechthild darüber so wütend, dass sie in eine der Schenken stürmen wollte, um den Wirt zur Rede zu stellen. «Dass die Obrigkeit nicht einschreitet! Nebenan sterben die Leut, und hier ergeht man sich in Saufgelage und Buhlerei. Pfui Teufel!»
    Nur mit Mühe konnte Clara sie zurückhalten.
    «Lass gut sein. Sie würden dich nur auslachen. Außerdem: Welche Obrigkeit? Unser Schultheiß ist mit den Grafen und dem Pfarrer auf und davon, der Bürgermeister ist seit neuestem auch spurlos verschwunden, und unter den Ratsherren gibt es schon etliche Tote.»
    Sie selbst hatte für dieses schamlose nächtliche Treiben keinen Gedanken übrig. Viel eher verzweifelte sie an der Hartherzigkeit der Menschen. Auf der Straße ging man sich tagsüberaus dem Weg, und wenn einer erkrankte, sagte der andre: Ich geh Hilfe holen!, versperrte leise die Tür und kam nie wieder. Trat dann der Tod ein, erfuhren die Nachbarn erst durch den fauligen Gestank davon. Manchmal hielt sie all das kaum noch aus.
    «Vielleicht hast du recht.» Mechthild strich sich das graue Haar aus der Stirn. «Ich frage mich nur, ob die Welt noch dieselbe ist, wenn das alles hier vorbei ist.»
    Clara lehnte sich gegen die Hauswand. «Vielleicht erleben wir das gar nicht mehr.»
    Sie fühlte sich unendlich müde, sehnte sich plötzlich so sehr nach einem einzigen Tag der Ruhe, nach einem Sonntag wie früher, wenn sie mit Heinrich und den Kindern nach dem Kirchgang durch den Stadtgraben geschlendert war oder Hand in Hand mit ihm im Garten gesessen hatte. Doch Gevatter Tod scherte sich nicht um kirchliche Fest- und Feiertage, und so würde sie auch morgen wieder nach den Kranken und Sterbenden sehen. Dabei war die Sehnsucht nach ihren Kindern, die Sorge um sie kaum noch auszuhalten.
    «Was ist mit dir?», fragte Mechthild.

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