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Der Pestengel von Freiburg

Der Pestengel von Freiburg

Titel: Der Pestengel von Freiburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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auch nur eingebildet?
    Aber als Mechthild keine halbe Stunde später in die Küche zurückkehrte, genügte ein Blick auf ihre Miene, und sein letztes bisschen Hoffnung war geschwunden.
     
    Zwei Tage nachdem Benedikt die Hautflecken entdeckt hatte, bildeten sich unter den Achseln Beulen, und es wurde zur Gewissheit, dass die Pestilenz nun auch seine Mutter in ihren Fängen hielt. Er war gerade beim Holzhacken, als Mechthild ihn hereinrief und ihm wortlos ein Stück Kreide in die Hand drückte: «Geh hinaus und mach ein Kreuz auf euer Hoftor.»
    Sehen durfte er seine Mutter nicht. Schon die Tage zuvor hatte Mechthild ihn nicht mehr zu ihr gelassen.
    «Aber warum? Was soll das?», hatte er aufbegehrt.
    «Du fragst, warum?» Ihre Stimme war hart, während in ihren Augen Tränen standen. «Weil du nicht der Nächste sein sollst, darum. Weil deine Mutter vielleicht schon morgen tot ist und du dann für deine Geschwister sorgen musst.»
    Mechthild hatte inzwischen die Kammer der Kinder bezogen und mit Benedikts Hilfe ihre persönliche Habe sowie sämtliche Essensvorräte, die sie noch zu Hause hatte, herbeigeschleppt. Um Tag und Nacht in der Nähe der Schwerkranken zu bleiben, verließ sie das Haus nicht mehr. Stattdessen gab sie Benedikt Anweisungen, was er zu tun habe: für frisches Wasser und Brennholz sorgen, nach einem Bäcker suchen, der noch Brot backte, ein Huhn fangen und schlachten, damit sie daraus eine kräftigende Brühe kochen konnte. Als er einmal zu Meister Christoffel in die Apotheke sollte, leuchtete ihm auch dort das Pestkreuz entgegen, und er musste unverrichteter Dinge umkehren.
    Zu Daniel und seinen Geschwistern zu gehen, wagte er in diesen Tagen nicht. Er hätte es nicht über sich gebracht, ihnen die Wahrheit zu sagen. Sie würden die nächste Zeit ohne seine Unterstützung auskommen und im Notfall eben auch die zweite Ziege schlachten müssen – wahrscheinlich hatte ja ohnehin alles keinen Sinn mehr.
    Wenn Benedikt seine Handlangerdienste erledigt hatte, irrte er oft den halben Tag ziellos durch die Gegend, mal draußen vor der Stadt, mal durch die verschlammten Gassen, durch die die ersten Herbststürme pfiffen und kalten Regen brachten. Ihm war, als suche er nach etwas, nach Spuren aus früheren Zeiten, die ihm zeigten, dass das Leben weiterging. Aber abgesehen von dem herrlichen Kirchturm, der sich wie eh und je majestätisch über die Dächer erhob, fand er nichts. An jedem dritten Haus prangten Pestkreuze wie Kainsmale, Werkstätten und Verkaufslauben waren mit Brettern vernagelt, einst stolze Bürgerhäuser standen aufgebrochen und geplündert.
    Das hier war nicht mehr sein Freiburg, seine geliebte Heimatstadt – zu vieles hatte sich verändert. Menschen, die er seit seiner Kindheit gekannt hatte, gab es nicht mehr, dafür stierten ihn aus den Häusern der Nachbarschaft fremde Gesichter an. Er traf auf keine Kinder mehr, die auf der Gasse oder vor den Stadttoren spielten, niemand tratschte mehr am Brunnen, niemand rief mehr seine Waren oder die neuesten Stadtverordnungen aus. Sogar die Hühner, Schweine und Hunde, die früher so zahllos durch die Gassen gestreunt waren, waren verschwunden. Stiller war es geworden und zugleich lauter, denn jeder Schmerzensschrei, jeder Raufhändel, jedes trunkene Gelächter war nun weithin zu hören.
    Manchmal wurde er unterwegs von Betrunkenen angepöbelt, manchmal musste er sich gegen Beutelschneider und Strauchdiebe wehren. Oder auch gegen aufdringliche Huren, die ihre Freier mitten am Tag in eine der düsteren Brachen zwischen den Häusern zogen, wo knöcheltief der Matsch stand, um dort an einer Schuppenwand im Stehen ihre Liebesdienste anzubieten.
    Zumeist aber beachtete ihn überhaupt niemand. Wederwurde er mit einem freundlichen Gruß bedacht noch zum Schwatz angehalten, wie früher, wenn er durch die Stadt gegangen war. Er fühlte sich wie in einem fremden Land, dessen Sprache er nicht verstand. Und er verstand die Menschen wahrhaftig nicht mehr. Die, die litten, zogen sich zurück in ihre Häuser oder in die Kirche zum Gebet, die anderen ergaben sich in schamloser Putz- und Verschwendungssucht und stellten ihren neuen Reichtum in den Gassen und Wirtshäusern zur Schau.
    Wo die einen in Lumpen gingen, stolzierten nun andere wie die Pfauen umher, Männer wie Frauen in Kleidern so eng, dass sie sich kaum darin bewegen konnten, in Schnabelschuhen so lang, dass sie über die eigenen Füße stolperten. Der einfache Handwerker kleidete sich plötzlich wie

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