Der Pestengel von Freiburg
«Du bist ganz blass.»
«Es geht schon wieder.» Clara zog sich den Umhang fester um die Schultern. «Gehen wir nach Hause.»
Sie hakte sich bei ihrer Freundin unter. Ich bin nur erschöpft, sagte sie sich, bräuchte einfach mal ein bisschen Ruhe. Wären da nur nicht diese rasenden Kopfschmerzen, die ihr den Schädel zu zersprengen drohten.
Als Benedikt am nächsten Tag von der Waldhütte zurückkehrte, war er mehr als besorgt. Die Nächte wurden schon kalt, der kleine Eli litt an einem hartnäckigen Husten, und Daniel hatte sich bei der Jagd auf einen Fuchs den Fuß verstaucht.Zwar hatte Benedikt ihnen eine Lage Decken mitgebracht, die er in der Stadt aufgetrieben hatte, aber die würden kaum etwas gegen die Bodenkälte ausrichten können. Zudem wurde es immer schwieriger, genügend Essensvorräte für sechs hungrige Mägen aufzutreiben. Das, was in den Lauben der Großen Gass auslag, war nicht mehr Markt zu nennen, so spärlich war das Angebot. Von den drei Getreidemühlen arbeitete nur noch die Paradiesmühle, gegen einen unverschämt überhöhten Mahllohn, und was auf ihrem eigenen Feldstück an Herbstgemüse, an Äpfeln und Birnen gedieh, wurde von Fremden, kaum war etwas halbwegs herangereift, gestohlen.
So war Benedikt seinerseits dazu übergegangen, sich zu holen, was er und seine Familie notwendig brauchten. Anfangs hatte er nur die mehr oder minder verwahrlosten Gärten der Vorstadt aufgesucht, heimlich und noch vor Morgengrauen. Doch hierbei war er nicht der Einzige, und mehr als einmal hatten ihm finstere Gestalten seine Ausbeute unter Prügelschlägen wieder abgenommen. Er erkannte schnell, dass Gegenwehr zwecklos war. Schon ein Säckchen Äpfel oder Nüsse konnte zu Blutrunst, Wund- und Totschlag führen, und so gab er ab, was er hatte, wenn ihm jemand in die Quere kam.
Bald nahm er immer weitere Wege in Kauf, war stundenlang unterwegs, um die Felder der umliegenden Dörfer zu durchstreifen. Mit etwas Glück traf er auf herrenloses Federvieh, dem er, wenn er sich unbeobachtet glaubte, gleich an Ort und Stelle den Hals umdrehte, oder auf eine entlaufene Milchkuh, deren pralles Euter er voller Gier melkte. Er hätte sie auch mitnehmen können, in den alten Kuhstall daheim. Nur, wie hätte er sie nähren sollen?
Was seine Mutter nicht wusste: Mittlerweile hatte er keinerlei Hemmungen mehr, einsame Schuppen oder Scheunenaufzubrechen. So war er heute Morgen sogar, auf dem Weg in den Wald, in die verödete Grafenmühle eingedrungen. Leider war er nicht der Erste gewesen, und so waren ihm nur letzte Korn- und Mehlreste geblieben, die er aus der Bütte und vom Boden aufklaubte.
Lange konnte das nicht mehr so weitergehen. Zwar hatte der Freiburger Rat angekündigt, verbilligtes Korn aus den Vorratsbeständen des Spitals auszugeben, doch bislang war nichts dergleichen geschehen. Wahrscheinlich war das meiste längst zu Wucherpreisen an die Reichen gegangen. Sogar Bahren und Decken wurden knapp, und seit einigen Tagen gab es weder Totenkerzen noch Wachs mehr zu kaufen, worüber seine Mutter schier in Verzweiflung geraten war. «Und wennschon – Wachs kann man nicht essen», hatte er ihr gesagt, und über diese Bemerkung waren sie fast in einen handfesten Streit geraten. Dafür hatte es keinen Mangel an aufgegebenen Häusern, Scheunen und Gärten, die zu Spottpreisen zum Verkauf standen.
Als Benedikt sich jetzt dem Stadttor näherte, zögerte er. Sollte er einen Umweg über die Obere Würi machen, eine Ansammlung von kleinen Bauernhöfen und Hütten auf der anderen Flussseite? Von dort würde er sicher nicht mit leeren Händen heimkehren, denn die Höfe waren inzwischen allesamt aufgegeben. Doch beim Gedanken an seine Mutter beschloss er, dies auf den Nachmittag zu verschieben. Es ging ihr nicht gut. Ganz entgegen ihrer Gewohnheit war sie heute früh nicht mit ihm aufgestanden. Als er schließlich den Kopf in ihre dunkle Kammer gesteckt hatte, hatte sie ihm nur müde zugeraunt, sie wolle noch ein wenig liegen bleiben, nur ein klein wenig ausruhen an diesem heiligen Sonntag. Da hatte er leise die Tür wieder geschlossen und sich auf den Weg gemacht.
Während er nun die Stadt durchquerte, sorgte er sich mehrund mehr um sie. Viel zu hart war sie mit sich selbst, gönnte sich keine Ruhe, kein Verschnaufen und wurde dabei immer schmaler im Gesicht. Vielleicht hätte er sie heute gar nicht allein lassen sollen.
Im letzten Moment bog er in die Schustergasse ein, um sich den Weg über den Kirchplatz zu
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