Der Pestengel von Freiburg
fühlte mich krank und musste fortwährend spucken. Seit einigen Tagen schon. Als einer der Büttel mich holte und zu den anderen in die Stube schleppte, stellte sich Uris Mutter schützend vor mich. ‹Das Mädchen ist guter Hoffnung, ihr dürft ihr nichts antun.› Uris verdutzten Blick dabei werde ich nie vergessen. Dann hat man mich fortgebracht, nur mit dem, was ich auf dem Leib trug, und einem warmen Wollmantel von Uris Mutter. Ins Haus der städtischen Hebamme, wo noch ein paar andere jüdische Frauen warteten. Die Hebamme befragte und untersuchte mich und bestätigte zu guter Letzt meine Schwangerschaft. Ich weiß bis heute nicht, ob Uris Mutter mich retten wollte oder tatsächlich erkannt hatte, dass ich Lea unter dem Herzen trug.»
Esther zog ihr schlafendes Kind fest in die Arme und küsste es zärtlich.
«Und dann?», fragte Clara.
«Gemeinsam mit drei anderen schwangeren Frauen hat man mich noch am selben Tag bis vor das Tor gebracht. Verabschieden durfte ich mich von niemandem, und so habe ich Uri und seine Familie nie wiedergesehen.»
Immer nach Norden seien sie miteinander marschiert, auf der Handelsstraße nach Frankfurt, hatten in Schafställen oder im Wald übernachtet. Nur selten war ihnen von einer mitleidigen Seele Obdach und ein warmes Essen vergönnt worden. Eine der Frauen, eine Ärztin mit Namen Hadassah, hatte davon gehört, dass in Heidelberg der Kurfürst und Pfalzgraf Ruprecht jüdischen Flüchtlingen Schutz gewähre, so auch denen aus der heiligen jüdischen Gemeinde Speyer, die dort dem Morden wenige Wochen zuvor hatten entkommen können. Es hieß, einige hätten sich sogar in ihren Häusern selbst verbrannt, bevor man sie zur Hinrichtung geholt hatte, undein paar wenige hätten fliehen können. Esther hatte fortan ihre ganze Hoffnung darangesetzt, in Heidelberg ihren Bruder Jochai wiederzusehen, hatte zum Herrn gebetet, dass er zu den Überlebenden gehören möge.
Doch als sie zum Ende des Hornungs endlich ihr Ziel erreicht hatten, musste Esther erfahren, dass Jochai tot war. Niemand aus ihrer Familie hatte also überlebt! Wäre sie nicht guter Hoffnung gewesen, hätte sie Hand an sich gelegt. Aber der Gedanke an ihr Kind ließ sie auch diesen Schmerz überwinden.
Bis zum Frühsommer blieb sie in Heidelberg. Zusammen mit der hochschwangeren Hadassah hatte sie im Hause einer Rabbinerfamilie ein Zimmer gefunden. Es war ein freundlicher, heller Raum mit einem großen Fenster, durch das man an manchen Tagen das Rauschen des Neckarflusses hören konnte. Die Heidelberger Juden, die unter dem Schutz ihres Pfalzgrafen unbehelligt ihrem Gewerbe wie ihren Riten und Gebräuchen nachgehen durften, unterstützten die Neuankömmlinge, wie sie es nur vermochten. So hatten sie und Hadassah keine Not zu leiden. Bald schon brachte die Ärztin ein gesundes Mädchen zur Welt, und Esther hatte dabei sein dürfen.
Nach nur drei Monaten indessen hatte diese friedliche Zeit in der kleinen Residenzstadt ihr Ende gefunden. Als ganz plötzlich die Pestilenz ihre ersten Opfer forderte, begannen auch hier die Bürger gegen die Juden zu gehen. Esther und Hadassah, die beschlossen hatten, zusammenzubleiben und einander in ihrer schwierigen Lage beizustehen, mussten erneut ihr Bündel packen und zogen in ein Dorf nahe dem kurpfälzischen Städtchen Sinsheim, wo sie bei einem jüdischen Viehhändler Aufnahme fanden.
Esthers Leib rundete sich in dieser Zeit schon auffällig, undsie war heilfroh, Hadassah als Ärztin und junge Mutter zur Seite zu haben. Ihre Weggefährtin war eine ruhige, beherzte Frau – ohne sie hätte Esther wohl kaum all die seelischen und körperlichen Strapazen überstanden. Mit Hadassahs Hilfe brachte sie denn auch zur Mitte des ersten Herbstmonats ihr Kind zur Welt, ein wenig zu früh und unter qualvoll langen und heftigen Wehen.
«Als Lea in meinen Armen lag», sagte Esther, und ihre Stimme klang jetzt wieder müde und erschöpft, «da wusste ich, warum ich hatte weiterleben sollen.»
«Warum bist du dann später fort aus dem Dorf?»
«Weil es für unser Volk keine Ruhe gibt», entgegnete sie bitter. «Vielleicht hätte ich dort bleiben mögen, in diesem Ort inmitten von sanften Hügeln mit seinen Obstbaumwiesen, kleinen Wäldern und fruchtbaren Feldern. Zumal diese Gegend von der Seuche weitgehend verschont geblieben war. Nicht aber von Menschen, die unser Volk vernichten wollen. Im nahen Sinsheim fing es an, dann ging es auch gegen die wenigen Juden auf den Dörfern. Als
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