Der Pestengel von Freiburg
Herz schlug schneller, als sie auf das Hoftor zuging. Sie schob den Riegel zurück und öffnete das Tor einen schmalen Spalt weit.
Vor ihr stand Esther.
Clara glaubte fest, ihr Geist spiele ihr einen Streich, und brachte kein Wort über die Lippen. Das Messer glitt ihr zu Boden, sie wich zurück. Wenn sie jetzt die Hand ausstreckte, würde sich die Erscheinung gewiss in Luft auflösen.
Die Frauengestalt in dem zerschlissenen wollenen Umhang und dem dunklen Tuch um den Kopf sah sie unsicher an.
«Darf ich hereinkommen?»
«Esther?», flüsterte Clara.
«Ja, Gevatterin, ich bin’s.»
Allmählich begriff Clara, dass Esther Grünbaum leibhaftig vor ihr stand. Auch wenn sie sich sehr verändert hatte. Die Ereignisse hatten aus dem freundlichen Nachbarmädchen eine ernste junge Frau gemacht, ihr Gesicht wirkte erschöpft und von Entbehrungen gezeichnet, die Augen waren dunkel umschattet. Sie trug einen Reisesack auf dem Rücken, vor der Brust hielt sie unter dem dicken Stoff etwas verborgen.
«Wo – wo kommst du her?», stotterte Clara. Sie bückte sich nach dem Messer und schloss das Hoftor hinter ihnen.
«Aus den Waldbergen, aus einem Dorf bei Villingen.»
«Aber wieso – was war mit Straßburg – und überhaupt …» Sie schüttelte den Kopf und verstand gar nichts mehr. Unter dem Mantelstoff begann sich etwas zu regen.
«Nur ein Schlückchen Wasser und eine ruhige Ecke zum Stillen vielleicht», sagte Esther leise. Sie schien Mühe zu haben, die Augen offen zu halten.
Ungläubig sah Clara, wie der Mantel sich teilte und in Esthers Armen ein Kind zum Vorschein kam, ein winziger Säugling von höchstens acht Wochen.
«Ist das dein Kind?»
«Ja. Sie heißt Lea.» Das Kind hob an zu wimmern.
«Ach herrje – ein so kleines Kind – in diesen Zeiten.» Clara gelang es nur schwer, sich zu fassen. «Jetzt aber rasch ins Haus.»
Sie schob Esther vor sich her in die Küche. Dort streckte sie die Arme aus. «Gib mir das Kindchen. Zieh den Mantel aus und setz dich dort auf die Bank.»
Als Clara das kleine Bündel entgegennahm, hatte sie endlich das Gefühl, wieder in die Wirklichkeit zurückgefunden zu haben. Aus den zusammengeschlagenen Tüchern schaute sie ein rosiges Gesichtchen mit großen dunkelblauen Augen an, bevor sich der Mund wieder zum Weinen verzog. Clara fühlte sich mit einem Mal gesund und stark wie nie.
«Gleich, kleine Lea, gleich. Lass deine Mutter nur erst mal Luft holen. Dann kriegst du was.» Sie wiegte den Säugling hin und her, und ein Gefühl von Glück und Dankbarkeit durchflutete sie plötzlich.
«Was für ein Wunder», murmelte sie.
Das Weinen wurde leiser. Mit dem Kind an ihrer Schulter holte Clara das Brot aus der Kammer.
«Iss und trink erst mal. Du bist sicher ganz verhungert.»
Gehorsam schenkte sich Esther Wasser ein und brach vom Brot ab. Sie kaute langsam und ohne Gier. Dabei starrte sieauf die Maserung der Tischplatte. Die kleine Lea schien wieder eingeschlafen. Jetzt zog Clara ihr sachte das Tuch vom Kopf und strich über den hellen Flaum.
Esther sah auf. «Meine Familie – die Freiburger Juden … Sie sind alle tot, nicht wahr?»
Clara schrak zusammen. «Ja. Das heißt, nein. Eli und Jossele nicht.»
«Eli und Jossele? Wo sind sie?» Esthers Augen begannen zu leuchten.
«Hier bei uns. Wir haben sie aufgenommen damals. Es geht ihnen gut. Auch euer Familienschatz ist nicht verloren. Dein Vater hat ihn in unsere Obhut gegeben.»
Lautlos begann Esther zu weinen.
«Weine nur, mein Kind.» Clara setzte sich neben sie auf die Bank. «Es ist furchtbar, was seinerzeit geschehen ist. Vielleicht hat Gott uns deshalb mit dem Großen Sterben heimgesucht.»
Sie suchte nach weiteren Worten des Trostes, fand aber keine. Schließlich legte sie Esther die Hand auf den Arm.
«Jetzt ruh dich aus. Ich bringe dich nach oben, dort kannst du dein Kind stillen und ein wenig schlafen. Und wenn du wieder wach bist, wirst du deine beiden Brüder wiedersehen.»
Esther nickte und erhob sich. Während sie die Treppe zu den Schlafkammern hinaufstiegen, Clara noch immer mit dem Säugling im Arm, fragte Esther:
«Warum sind sie nicht hier, Eli und Jossele? Warum bist du ganz allein im Haus?»
«Es ist wegen der Seuche. Die Kinder haben den Sommer im Wald verbracht, zusammen mit einem Freund von Benedikt. Aber jetzt ist alles vorbei. Heut kommen sie zurück.»
«Dann haben sie die Seuche gut überstanden?»
«Ja, dem Herrgott sei Dank.»
«Auch – Benedikt?»
Clara nickte und
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