Der Pestengel von Freiburg
irgendwelche Mordbrenner versuchten, das Haus unseres Gastgebers in Brand zu stecken, wurde uns klar, dass wir wieder fortmussten. Hadassah wollte endgültig weg aus den süddeutschen Landen. Zunächst in die Reichsstadt Regensburg, wohin sich schon viele unserer Glaubensgenossen geflüchtet hatten und wohin auch jetzt einige Sinsheimer Juden aufbrachen. Hadassah kannte dort einen Vetter ihres Mannes, der sie und ihr Kind bis über den nächsten Winter aufnehmen würde. Von Regensburg wollte sie weiterziehen nach Osten, in die Wiener Judenstadt. Der Herzog von Österreich nämlich ist uns Juden sehr freundlich gesinnt. Und danach für immer nach Krakau, ins Königreich Polen.» Sie machte eine kurze Pause. «Der Abschied von Hadassahist mir sehr schwergefallen. Sie war mir eine Freundin geworden.»
«Du hättest mit ihr gehen können.»
«Sie hatte versucht, mich zu überreden. Aber seit Lea auf der Welt war, wusste ich, dass ich noch einmal nach Freiburg zurückmusste. An die Todesstätte meiner Familie, um endgültige Gewissheit zu bekommen, was mit ihnen geschehen war. Und zurück zu dir. Um dir zu sagen, dass du nicht umsonst die Gefahr auf dich genommen hattest, mir zu helfen, und um dir zu danken.»
«Auch wegen Benedikt?», fragte Clara leise.
«Ja. Auch wegen ihm.»
Sie schloss die Augen, und Clara glaubte sie schon eingeschlafen, als Esther fortfuhr zu erzählen.
Da im Rheintal allerorten die Pestilenz wütete, hatte sie beschlossen, den beschwerlichen Weg entlang der Höhen des Schwarzwaldgebirges zu nehmen. Ihre kleine Lea war nach der Geburt erstaunlich schnell zu Kräften gekommen, auch dank der medizinischen Kenntnisse ihrer Freundin, und so hatte sie sich in Gottes Hand begeben und war losgewandert, ganz allein mit ihrem Säugling. Zwei Wochen hatte sie gebraucht, hatte sich unterwegs als junge Christenwitwe ausgegeben. Bis nach Villingen war sie gekommen und dann mit ihrer Kraft am Ende gewesen. Bei einer alten Bauersfrau hatte sie schließlich Zuflucht gefunden, und die gute Seele hatte das wenige, das sie besaß, mit ihr geteilt. Von ihr hatte sie auch erfahren, wie heftig die Seuche unten im Rheintal gewütet hatte und dass viele Bürger herauf in die Waldberge geflüchtet seien.
«Da hab ich kaum noch schlafen können. Hab immerzu nur gedacht, ob ihr wohl noch am Leben seid. Habe zum Ewigen – unserem Herrn – gebetet …»
Ihre letzten Worte waren kaum noch zu verstehen. Sie war eingeschlafen.
Clara liefen die Tränen über das Gesicht. Vorsichtig, um Esther und das Kind nicht zu wecken, breitete sie die Decke über ihnen aus und verließ so leise als möglich die Kammer.
Auf der Außentreppe hörte sie von der Gasse her aufgeregte Kinderstimmen. Ihr Herz machte einen Sprung vor Freude, und sie musste an sich halten, nicht die Treppe hinunterzurennen. Da schob sich das Tor auch schon auf, und allen voran schoss Kathrin, ihre Jüngste, auf sie zu. Sie jauchzte vor Glück, als Clara sich niederbeugte und sie in die Arme schloss, wurde zur Seite gedrängt von Michel, Eli und Jossele, die ihre Mutter mit demselben Überschwang bestürmten. Clara bekam fast keine Luft mehr.
«Meine Kinder», stieß sie hervor, «meine geliebten Kinder.» Und damit meinte sie ebenso die beiden Grünbaumknaben wie ihre eigenen.
«Jetzt lasst doch unsere Mutter los», tadelte Benedikt streng und strahlte dennoch über das ganze Gesicht. Zusammen mit seinem alten Freund Daniel hatte er als Letztes den Hof betreten. «Sie ist noch ganz schwach.»
«Überhaupt nicht, mein Junge. Jetzt bin ich wieder gesund. Ganz und gar gesund.» Clara erhob sich und wandte sich an Johanna. «Meine Große, meine tapfere Johanna …»
Tränen erstickten ihre Stimme, als sie ihre Älteste umarmte. Auch Johanna weinte vor Glück. Das Mädchen war ganz mager geworden, wie die anderen Kinder auch.
Nur widerstrebend machte sich Clara los. Sie reichte Daniel, der verlegen abseitsstand, die Hand.
«Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll. Ohne dich hätten meine Kinder das alles nicht durchgestanden.»
Daniel winkte ab. «Gott hat seine schützende Hand über uns gehalten, sogar über mich alten Mann.»
«So wollen wir ihm nachher alle miteinander danken», sagte Clara und trat zu Benedikt. «Da ist so unendlich viel, wofür wir zu danken haben.»
Dann fiel sie auch ihrem ältesten Sohn in die Arme.
«Jetzt sind wir alle wieder beisammen – was für ein Geschenk!»
Jemand zupfte an ihrem Rock. «Ich hab Hunger»,
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