Der Pestengel von Freiburg
seiner Rückkehr sichtlich mühte, die Gemeinde der Gläubigen zurückzugewinnen, und ihn kurz und bündig gefragt, ob er ihren Sohn mit Esther Grünbaum vermählen würde.
«Nun ja, meine liebe Tochter, es ist nie zu spät. Unser Herrgott liebt alle seine Schäfchen.» Väterlich und voller Güte hatte er ihr die Hand auf die Schulter gelegt. «Ich würde sie trauen, trotz dieses Kindes, das in Sünde geboren ist. Sofern das Judenmädchen und sein Bankert sich taufen lassen.»
Sie werde mit ihrem Sohn reden, hatte sie rasch erwidert und das Kirchenschiff verlassen. Aber Benedikt war ihr zuvorgekommen.Am selben Tag hatte er ihr eröffnet, er werde zum Judentum übertreten. Da war ihr fast das Herz stehengeblieben.
«Juden bleiben immer Juden», hatte er erklärt. «Selbst wenn sie unter Zwang getauft werden. Christen hingegen können zum jüdischen Glauben übertreten, auch wenn es sehr schwer ist. Aber wir werden schon einen Rebbe finden. Und unsere Lea ist ohnehin Jüdin, da sie von einer jüdischen Mutter geboren ist. Da ist nichts zu rütteln.»
Dann hatte er sie in den Arm genommen und beteuert, wie sehr er sie liebe. In jener Nacht hatte sie nur geweint und im Morgengrauen gewusst: Es war richtig, was ihr Junge tat. Sie musste ihn ein für alle Male loslassen.
Ungeduldig traten die beiden kräftigen Schimmel auf der Stelle. Sie wollten los, hinaus in den frischen, klaren Morgen. Der kühle Ostwind verhieß bestes Reisewetter.
Zum dritten und letzten Mal umarmte Clara ihren Sohn.
«Gebt nur ja gut auf den Schmuck und auf das Silber acht!», flüsterte sie ihm ins Ohr. «Dass kein Fremder davon erfährt und euch hernach ausraubt.»
«Keine Angst, Mutter. Wir haben alles so gut in unseren Sachen versteckt, dass wir es wahrscheinlich selbst nicht mehr wiederfinden.»
Er löste sich von ihr und sah ihr tief in die Augen.
«Ich danke dir – für alles.»
Dann kletterte er zu seiner künftigen Frau auf die hintere Ladefläche. In einer Lücke zwischen den schweren Tuchballen und Säcken hatten sie es sich mit dem Kind halbwegs bequem gemacht.
«Können wir?», rief der Fuhrmann ihnen zu.
«Nein, wartet noch.»
Esther öffnete die Schließe ihrer Halskette und reichte sie Clara über die Wagenbrüstung.
«Zum Andenken an mich und meine Familie.»
Clara kannte das silberne Kettchen. Es entstammte dem Familienerbe der Grünbaums, und Esther hatte es die letzten Wochen ununterbrochen getragen. Eine kunstvolle Silberschmiedearbeit, mit einem Anhänger, auf dem ein Hexagramm eingraviert war. Die Hebräer nannten das Zeichen Davidstern, weil es einst König David beschützt hatte.
«Es bringt Glück und wird dich vor allem Übel bewahren», fügte Esther hinzu. «Friede sei mit dir!»
«Danke, mein Kind», erwiderte Clara gerührt. «Gott schütze euch auf all euren Wegen. Vor allem meine kleine Lea.»
Ihre Stimme erstarb, und sie warf einen letzten liebevollen Blick auf den schlafenden Säugling. In diesem Augenblick ruckte das Fuhrwerk an. Johanna und die Kinder rannten ein gutes Stück nebenher, winkten und riefen Abschiedsgrüße, während Clara neben ihrer Freundin stand und glaubte, sie müsse sterben vor Trennungsschmerz.
Schon rumpelte das Fuhrwerk über die Brücke, wurde kleiner und kleiner, sodass Benedikt, Esther und das Kind in ihrem Schoß bald nicht mehr zu erkennen waren. Claras Hand umschloss fest das silberne Amulett, bis der Schmerz in ihrem Innern allmählich nachließ.
«Da fährt er dahin, mein Ältester. Und mein erstes Enkelkind gleich mit. Fort für immer.»
Mechthild legte ihr den Arm um die Schultern.
«Ja, die Jungen haben ihr eigenes Leben. Aber du wirst noch mehr Enkel haben. Und mit Eli und Jossele hast gleich noch zwei Kinder dazubekommen. Ist dir überhaupt aufgefallen,dass die beiden dich heut zum ersten Mal Mutter genannt haben?»
Clara nickte unter Tränen.
«Was hältst du davon», Mechthild hakte sich bei ihr unter und führte sie zum Stadttor zurück, «wenn ich mein Haus verkaufe und wir zusammenziehen? Den Erlös, der mir vom Verkauf bleibt, teilen wir uns.»
«Du willst zu mir ziehen? In mein einfaches kleines Haus?»
«In dein einfaches kleines Haus. Es wird uns an nichts fehlen.»
Über den Waldbergen schob sich die Sonne in den Himmel.
«Ein schöner Gedanke.» Clara wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
«Dann lass es uns gleich heute angehen», sagte ihre Freundin, «du wirst sehen: Das Leben geht weiter.»
Nachwort der Autorin
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