Der Pestengel von Freiburg
Oder wollte Meinwart womöglich auch zum Stadtgraben?
Tatsächlich durchquerte der andere wenig später das Predigertor, nicht ohne den Wächter mit Handschlag zu begrüßen, und kletterte die steinernen Stufen zum Stadtgraben hinunter. Benedikt war verärgert. Seit wann vergnügte sich der Kerl am Wochenende im Grünen, statt sich mit seinen Genossen einen Rausch zu saufen? Er wollte umkehren, doch etwas an Meinwarts Verhalten erregte seine Neugierde. Also trat er hinter einen dichten Holderstock und beobachtete, wie Meinwart immer wieder stehen blieb und in alle Richtungen spähte, als ob er jemanden suchte. Dabei zog er eine kleine Lederflasche vom Gürtel und nahm ein paar kräftige Schlucke. Schließlich marschierte er weiter in Richtung Lehener Tor, nicht ohne zwischendurch ausgiebig gegen die Stadtmauer zu pinkeln.
Benedikt folgte ihm in gehörigem Abstand. Da plötzlich entdeckte er an einem Ententeich, halb hinter Sträuchern verborgen, Esther mit ihren jüngeren Brüdern. Er beobachtete, wie Meinwart mit lachendem Gruß auf sie zutrat, einen kleinen Ball unter dem Mantel vorzog und den Knaben zuwarf. Wie vom Blitz getroffen blieb Benedikt stehen. Das also war der Grund, warum der Kerl sich hier herumtrieb! Er hatte nach Esther Ausschau gehalten. Und dann durchfuhr Benedikt ein anderer, ein durch und durch widerwärtiger Gedanke. Waren die beiden womöglich zu einem Stelldichein verabredet? Voller Abscheu beobachtete er nun, wie Meinwart ihr von seinem Weinschlauch anbot und Esther den Kopf schüttelte. Dieser Blödkopf wusste nicht mal, dass Juden nur koscheren Weintranken! Warum nur nahm Esther ihre Brüder nicht einfach bei der Hand und ging fort? Stattdessen ließ sie es zu, dass Meinwart vertraulich den Kopf an ihr Ohr beugte und ihr etwas zuflüsterte. Dabei schien er ihr etwas in seiner Handfläche zu zeigen.
Wie im Traum schritt Benedikt langsam näher. Jetzt konnte er Meinwart hören: «Nein, glaub mir, das ist ein echter Granatsplitter, in Silber gefasst. Hab auch noch ein Tigerauge.»
Was Esther entgegnete, verstand Benedikt nicht, aber was seine Augen sahen, war schlimmer. Meinwart legte tatsächlich seinen Arm um ihre Schultern, lachte wieder sein gockelhaftes Lachen, schob sie in Richtung des dichten Strauchwerks, während Eli und Jossele mit dem Ball beschäftigt waren.
Ein Gefühl der Verzweiflung durchfuhr Benedikt. Was tat Esther da, was hatte sie mit Meinwart zu schaffen? Ganz eng an dessen Brust schmiegte sie sich in diesem Augenblick, wand sich hin und her, halb war sie schon mit ihm hinter dem Busch verschwunden. Und da erst begriff er: Das war nicht das Tändeln zweier Verliebter, sondern das Gegenteil. Dieser hinterfotzige Abschaum war dabei, seine Esther auf widerwärtigste Weise zu bedrängen!
Benedikt rannte los. Er hörte Meinwart aufgebracht sagen: «Jetzt zier dich halt nicht so», als er das Gebüsch am Ententeich auch schon erreicht hatte. Meinwart hielt Esther, die vor Entsetzen die Augen weit aufgerissen hatte, fest im Griff und versuchte vergeblich, sie auf den Mund zu küssen.
«Dass dich das Höllenfeuer verbrenne, Meinwart Tucher!»
Als Meinwart sich erstaunt umdrehte, ließ Benedikt seine Faust vorschnellen, dem andern mitten ins Gesicht. Esther kam frei, da traf Benedikt auch schon der Gegenschlag am Kinn. Er wankte, sah, wie Meinwart sich davonmachen wollte,und stieß sich ab. Im Flug noch erwischte er ihn an den Beinen, sie stürzten beide mitten hinein in das Gesträuch. In enger Umklammerung wälzten sie sich auf dem Boden.
«Ich schlag dich tot, du Hurensohn», stieß Benedikt hervor. Der andere war einen halben Kopf größer als er und auch stärker, doch sein Hass verlieh Benedikt ungeahnte Kräfte. Im Wechsel bekamen mal er, mal Meinwart die Arme frei, um zum Fausthieb anzusetzen. Benedikt wusste nicht mehr, wer von ihnen beiden da so laut keuchte, doch nach und nach war er selbst es, der mehr einsteckte als austeilte. Schmerz spürte er keinen, nur etwas Süßliches zwischen den Lippen, als ihm ein Schlag gegen die Nase schier die Besinnung raubte.
Starke Arme rissen ihn von seinem Widersacher weg, wie hinter einem Schleier sah er eine breitschultrige Gestalt. Die warf sich jetzt auf Meinwart, mit der Kraft eines Stieres, drehte ihn auf den Rücken, setzte ihm das Knie auf die Brust und riss ihm am Haarschopf, bis Meinwart schrie und zugleich wimmerte: «Lass mich los! Ich hab nichts getan!»
Es war Aaron, Esthers ältester Bruder.
«Jetzt bittest
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