Der Pestengel von Freiburg
Nachrichten. Dazu boten all die Gaukler und Spielleute eine willkommene und oft höchst wundersame Abwechslung vom Alltag, wenn sie ihre tanzenden Bären, Hunde und Ziegen vorführten, freche Possen rissen, auf dem Seil Purzelbäume vorwärts und rückwärts schlugen, Messer warfen, Steine zerkauten oder mit Taschenspielerkünsten das Publikum verzauberten.
Als sie mit Heinrich hinaus vor das Hoftor trat, drangen von der Marktstraße Trommel- und Pfeifenklänge herüber. Der Duft nach Bratwurst und gerösteten Zwiebeln lag in der Luft. Heinrich hakte sich bei Clara unter, und so schoben sie sich mitten hinein in das lärmende, ausgelassene Gewühl. Zu sehen war außer Köpfen und Rücken von Menschen erst einmal wenig, dafür zu hören – zum Beispiel der gellende Schmerzensschrei eines Mannes, nicht weit von ihnen.
«Aha. Der gute Bernardus ist auch wieder da», grinste Heinrich. Auch Clara musste lächeln. Dem schwarzlockigen Zahnkünstler lag die ganze Breisgauer Frauenwelt zu Füßen, undes ging das Gerücht, dass manches Weib sich einen gesunden Zahn ziehen ließ, nur um sich nach seinem Feierabend von ihm trösten zu lassen.
«Wohin willst du als Erstes?» Heinrich stupste sie in die Seite.
Clara überlegte. «Vielleicht zum Laienspiel? Es soll das Zehnjungfrauenspiel geben, drüben vor der Kirche. Nein», sie schüttelte den Kopf, «weißt du was? Wir gehen zum Maientanz. Einmal so richtig tanzen, bis uns die Luft ausgeht. Hernach gönnen wir uns einen Krug Wein. Und zur Handleserin würde ich gern auch einmal wieder – es heißt, die Rote Uta wär in der Stadt.»
«Nur das nicht! Das letzte Mal hat dir diese Närrin prophezeit, ich würd die Ehe brechen mit einer jungen blonden Frau, und dann bist du mir wochenlang heimlich nachgeschlichen.»
«Aber das Gegenteil hast mir auch nicht beweisen können», lachte Clara, und Heinrich drohte ihr mit dem Finger. Dann wies er nach oben: «Sieh mal!»
Am Eingang zur Kirchgasse war zwischen zwei gegenüberliegenden Fenstern ein Seil gespannt, in atemberaubender Höhe. Ein junger Mann in engem, buntscheckigem Kostüm spazierte dort oben, nur von seiner Balancierstange gehalten, hin und her, als sei dies das Alltäglichste der Welt. Er ging in die Knie, wippte in die Höhe, drehte sich um die eigene Achse, um ohne zu zögern den ganzen Weg rückwärts bis zur Hauswand zu tänzeln. Dabei verlor er nicht einen einzigen Lidschlag lang sein gelassenes Lächeln.
Der Ausschreier unter dem Seil bat mit einem Trommelwirbel um Aufmerksamkeit. «Höchstverehrtes Publikum! Nun folgt der Höhepunkt unseres Künstlers Bellino Bellini: Der Todessalto! Ist ein Wundarzt unter dem Publikum?»
«Der da!»
«Der Meister Heinrich!»
«Der renkt selbst Toten wieder den Arsch ein!»
«Das ist gut. Ihr müsst nämlich wissen, liebe Leut: Erst bei meinem letzten Herrn – Gott hab ihn selig – musste ich mit ansehen, wie der große Meister beim Todessprung gleich einem Plumpsack vom Seil stürzte.»
Der Ausschreier faltete die Hände und murmelte ein Gebet. Dann ließ er erneut seine Trommelschlägel über das Fell wirbeln, und die Menschen wichen respektvoll unter dem Seil zurück.
Clara griff nach Heinrichs Arm. «Lass uns weitergehen. Ich will das gar nicht erst sehen. Wie kann ein Mensch nur so das Schicksal herausfordern?»
«Du hast ja nur Angst, dass ich den Kerl wieder zusammenflicken muss.»
Damit hatte er nicht unrecht. Nur zu genau erinnerte sich Clara daran, wie Heinrich vor einigen Jahren einen Bärenführer vor dem Tod gerettet hatte. Die Pranke der wild gewordenen Bestie hatte dem armen Kerl die Bauchdecke zerfetzt, ein Gutteil des Gedärms war aus ihm herausgequollen. Noch an Ort und Stelle hatte Heinrich ihn versorgt, hatte sich Nadel und Faden, Warmwasser und sauberes Tuch bringen lassen, die freiliegenden Darmteile erwärmt, gespült und reponiert und was durchtrennt war über einer Gänsegurgel wieder zusammengefügt und vernäht. Der Mann hatte tatsächlich überlebt!
Während sie sich weiter die Große Gass entlangschoben, hielt Clara Ausschau nach der Tucherin. Hatten sie sich früher ab und an zu einem kleinen Tratsch besucht, blieben ihnen nur mehr zufällige Begegnungen bei Gelegenheiten wie heute. Zwischen Heinrich und Gottfried Tucher war es nämlich zumBruch gekommen, nachdem das Heiratsversprechen rückgängig gemacht worden war, und Tucher hatte Heinrich bös beleidigt: Er werde es noch einmal bereuen, wenn seine Tochter irgendeinen
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