Der Pestengel von Freiburg
die Menschen auf den Gassen und Plätzen, wo von nichts anderem mehr die Rede war als von den heftigen Erdstößen, die sogar ein Todesopfer gefordert hatten. Die alte Mutter des Zunftmeisters der Rebleute, bislang rüstig und gesund, hatte vor Schreck einfach zu atmen aufgehört.
Das sonst so geregelte Alltagsleben war für diesen Tag außer Kraft gesetzt. Die Läden der Werkstätten blieben verschlossen, die Bänke der Bäcker, Fleischer und Grempler leer, niemand sah sich mehr in der Lage, seine Pflicht und Arbeit zu erfüllen. Stand nicht womöglich das Weltende kurz bevor? So besuchten an diesem Samstagabend Alt und Jung, Gesunde wie Bresthafte die Vorabendmesse, um zu beten und die heilige Kommunion zu empfangen. Denn sie alle waren Sünder und auf Gottes Erbarmen angewiesen, wollten den Weltenrichter gnädig stimmen, durch ihre Gebete und Lieder, durch die Fürbitten der Heiligen, allen voran die der Schutzpatronin ihrer Kirche Unser Lieben Frau. Maria, die Muttergottes, war die Höchste, sie vermochte alles zu erlangen, erst recht die Gnade für einen reuigen Sünder beim Jüngsten Gericht, an dem ein jeder Rechenschaft ablegen musste.
Johanna wirkte noch immer bleich und hohlwangig wie der Sensenmann selbst, als sich Clara mit ihren Kindern in die Reihen der Kirchgänger drängte, die für diesen Tag das ganze Mittelschiff vor dem Kreuzaltar füllten. Etliche hatten sogarHunde, Ziegen und Federvieh mitgeschleppt. Und nicht nur das: An den zahlreichen Seitenaltären, wo die Vornehmen ihre eigenen Priesterpfründen gestiftet hatten, hielten die Kapläne zu deren Seelenheil eine eigene Messe ab, und auch droben vom Hochchor, der durch den Lettner vom Laienvolk abgeschirmt war und wo das riesige, aus Silber getriebene Kreuz von der Decke hing, hörte man gedämpft die gregorianischen Gesänge. Über dreißig Pfründenkapläne gab es inzwischen neben dem Stadtpfarrer, und so konnte mitunter ein rechtes Durcheinander herrschen hier im Gotteshaus.
An diesem Abend indessen lauschte man voller Inbrunst dem «Dies irae», und selbst wer nie eine Schulstube von innen gesehen hatte, wusste um die Bedeutung der lateinischen Worte. Dass nämlich der Posaunenschall die Toten wie die Lebenden dereinst vor den Richtstuhl rufen würde, alle in angstvollem Zittern vor dem Zorn des Weltenrichters, wenn er das große Buch aufschlagen würde, in dem alles verzeichnet stand. Denn jeder von ihnen ahnte: Nichts würde verborgen bleiben, kein Vergehen ungesühnt. Gleichwohl blieb die Hoffnung auf Rettung, auf die Barmherzigkeit Jesu, der um der Sünder willen gelitten hat.
Als Clara sich während der Gabenbereitung umsah, erblickte sie nicht wenige, die in Tränen aufgelöst waren. Selbst diejenigen, die die heilige Kommunion sonst nur zu Ostern empfingen, traten heute mit demütig gesenktem Haupt vor Pfarrer Cunrat, dem heimlichen Sohn des alten Grafen, und nahmen die Hostie entgegen. Auch der Opferstock war gewiss schon seit langem nicht mehr so großzügig gefüllt worden.
Bereits zwei weitere Tage später drang die Kunde nach Freiburg, was es mit jenem Schreckensereignis auf sich gehabt hatte. Zur selben Zeit hatte im fernen Kärnten, jenseits desAlpengebirges, der Herrgott über die Menschen seinen ganzen Zorn ergossen. Dreißig Dörfer und dreißig Burgen waren durch ein gewaltiges Beben dem Erdboden gleichgemacht, von Bergstürzen zerschmettert, von mächtigen Flutwellen mitgerissen, von Bränden verzehrt worden. Nicht nur Clara dachte bei sich, dass Gott sie noch einmal verschont, sie gleichsam nur verwarnt hatte.
Die Unruhe der Menschen legte sich erst, nachdem auch Wochen später nichts weiter geschah und keine Gottesstrafe die Gegend heimsuchte. Nichts deutete mehr auf ein baldiges Zeiten- und Weltenende hin. Stattdessen zog der langersehnte Frühling übers Land zwischen Rhein und Waldgebirge.
Clara war eben dabei, ihre Beete mit der Krummhacke umzugraben und frischen Mist einzuarbeiten, als ihre Älteste mit Kathrin auf dem Arm den Hof betrat.
«Was ist mit dir, Johanna? Bist dem Leibhaftigen begegnet?»
«Die Wäscherin war eben da und hat das Weißzeug geholt. Sie hat erzählt, dass Meinwart freigesprochen ist, von jeglicher Schuld.»
Clara ließ die Hacke sinken. «Wie das?»
«Sein Lehrherr, der Nussgeld, hat wohl alles zurückgenommen, die ganzen Anschuldigungen, ein Versehen halt – und der Meinwart wär ganz und gar ohne Schuld …» Sie stockte. «Am Sonntag muss Nussgeld von der Kirchenkanzel
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