Der Pestengel von Freiburg
Natürlich konnte einem das unglückliche Mädchen leidtun, natürlich fühlte sie mit ihrem Sohn. Aber die beiden waren schließlich keine Kinder mehr, hatten genug Verstand, um zu begreifen, dass eine Liebe zwischen Juden und Christen ein Ding der Unmöglichkeit war. Sie spürte jetzt fast so etwas wie Zorn aufsteigen, über ihren Sohn, über Esther und über diese ganze verfahrene Situation.
Der Höflichkeit halber versuchte sie, während der Mahlzeit mit Uri ins Gespräch zu kommen, doch gab sie es bald schon auf. Der junge Mann antwortete auf jede ihrer Fragen nur mit Ja oder Nein, um anschließend wieder in verlegenes Schweigen zu fallen. Heinrich hingegen unterhielt sich lebhaft mit dem Straßburger Vorbeter. Der freute sich sichtlich, dass es sich bei seinem Tischnachbarn um den geachteten Freiburger Wundarzt handelte, von dem er schon so viel gehört habe. Mit halbem Ohr bekam Clara mit, wie Salomon ben Ariel ihren Mann darum bat, den neuen jüdischen Arzt Gutlieb ein wenig unter seine Fittiche zu nehmen. «Er ist sehr klug, hat fleißig studiert. Aber er ist noch blutjung und hat kaum Erfahrung im Umgang mit Kranken.»
Irgendwann kamen die beiden auch auf die Pestilenz zu sprechen, und Clara hörte den Vorbeter eine interessante Vermutung aussprechen: Zwar werde man wohl niemals ein ärztliches Mittel gegen die Seuche finden, gleichwohl seien die jüdischen Ärzte überzeugt, dass ein jeder in der äußersten Reinhaltung von Körper, Wohnstatt und Wasser eine wichtige vorbeugende Maßnahme treffen könne.
Gerne wäre Clara der Unterhaltung weiter gefolgt, doch in diesem Augenblick wurde sie von Esther angesprochen: «Wie geht es Benedikt?»
Clara schrak zusammen.
«Ich denk, es geht ihm recht gut.» Sie versuchte, ein ungezwungenes Lächeln aufzusetzen. «Er ist unterwegs im Glottertal, und ich soll dich von ihm grüßen.»
In Esthers Augen las sie, dass ihre kleine Lüge durchschaut war.
«Ach, mein Kind …» Clara unterdrückte ein Seufzen. «Es ist schon alles recht so, glaub mir. Du wirst sehen …»
Sie brach ab und schwieg. Dachte daran, dass Benedikt seit Wochen nicht mehr lachte, nicht einmal, wenn er mit seinen kleinen Geschwistern tobte. Er aß schlecht, tapste nachts ruhelos in Haus oder Garten herum, und von Michel wusste sie, dass er manchmal im Schlaf weinte.
Plötzlich vermochte sie das Essen nicht mehr zu genießen, und für diesmal lag es nicht an den ungewohnten Gewürzen. Als nach dem letzten Gang zum Tanz aufgespielt wurde, bot auch Heinrich ihr den Arm und führte sie in den Kreis der Tanzenden vor der Hütte. Noah Liebekind, Grünbaums Nachbar, spielte die Schalmei, sein Sohn die Zwerchpfeife, und Jochai Grünbaum strich die Fiedel. Mal tanzten sie, einander untergehakt, in Reihen, mal paarweise, immer jedoch, wie es bei den Hebräern Brauch war, nach Frauen und Männern getrennt. Und wie jedes Mal überraschte sie der schmächtige Moische, der tanzte und stampfte und umherwirbelte, als sei er eben einem Jungbrunnen entstiegen. Salomon, sein Gast aus Straßburg, stand ihm in nichts nach an Feuer und Beweglichkeit, auch er strahlte über das ganze Gesicht. Bald schon hielt es keinen mehr bei Tisch, selbst die Kinder kamen aus der Hütte und hopsten mit herum, in diesem fröhlichen Takt, der immer schneller wurde.
Clara, die für ihr Leben gern tanzte, gab sich alle Mühe, in das Spiel der Musikanten hineinzufinden. Doch immer wieder fiel ihr Blick auf die verwaiste Tafel, an der nur ein Einziger sitzen geblieben war: Uri ben Salomon. Teilnahmslos beobachtete er seine Braut, die als letzte der Frauen von ihrem Bruder Aaron in den Kreis der Tanzenden geholt worden war. Aaron tanzte ihr gegenüber und setzte alles daran, auf Esthers schwermütige Miene ein Lächeln zu zaubern, aber es gelang ihm nicht.
Da mühst du dich vergeblich, hätte Clara ihm am liebsten gesagt, du müsstest dich schon in Benedikt verwandeln. Schließlich bat sie Heinrich, bald nach Hause zu gehen, sie sei müde von dem schweren Wein. In Wirklichkeit wollte sie das alles nicht mehr mit ansehen, und als sie aufbrachen, fuhr ihr ein ganz und gar unbotmäßiger Gedanke durch den Kopf: Was für ein glückliches Paar hätten Benedikt und Esther in einer anderen Welt sein können!
Mit dem ersten Herbststurm drang eine schier unglaubliche Kunde in die Stadt. Clara und Heinrich hätten wohl kaum als eine der Ersten davon erfahren, wären an diesem Freitag kurz nach Martini nicht schon in aller
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