Der Pestengel von Freiburg
verpesteten Brunnen Wasser zu trinken, doch stellte man diese Versuche nach drei Wochen als ergebnislos ein. Vorsichtshalber ließ der Rat aber von nun an sämtliche Brunnen bewachen.
Heinrich und damit auch Clara waren über die Vorgänge in den Nachbarstädten bestens informiert, dank Heinrichs Verbindungen zu den Ratsherren Neumeister und Pfefferlein. Auch bei den Versammlungen der Malerzunft, der Heinrich als Wundarzt angehörte, war die Rede von nichts anderem mehr. Gleichwohl blieb es in ihrer Stadt zunächst ruhig. Wie in Basel und Straßburg war der Rat bemüht, das Volk im Zaum zu halten und einen Aufruhr wie in anderen Städten zu verhindern, wo Zusammenrottungen schon zu vielerlei Übel und Verwüstung geführt hatten.
Die Mehrheit der Menschen nämlich, vom Zunftmeister bis zum einfachsten Gemüt, glaubte nun zu wissen, dass die tödliche Seuche, die die Welt bedrohte, keine Gottesstrafe war, sondern eine von den Juden angezettelte, wahrhaft teuflische Verschwörung. Manch einer meinte sogar, mit der Bestrafung der Juden als Satansbrüder und Gottesmörder lasse sich die Gunst des Herrgotts gewinnen, auf dass er ihre Stadt vor der Seuche verschone.
«Was für eine Erleichterung muss es für diese Narren sein, endlich glauben zu dürfen, dass die Pestilenz nicht auf die eigenen Sünden, sondern auf das Böse im Juden zurückgeht», spottete Heinrich, als wieder einmal ein Bettelmönch vor derKirche die Vernichtung der Hebräer als gottgefälliges Werk predigte. Clara und er waren gerade auf dem Weg zu einem Kranken, der am Kirchhof wohnte, und sie hatten alle Mühe, sich durch das Menschengewühl vor dem Kirchenportal zu kämpfen.
«Seit Urzeiten sucht der Teufel sich Verbündete, um die Christenheit zu verderben», brüllte der Mann über ihre Köpfe hinweg. «Erkennt ihr nun endlich, wessen er sich neuerdings als Werkzeug bedient? Der Juden, als Meister der Schwarzen Kunst! Bei ihren heimlichen Treffen in den Synagogen hat der Satan es ihnen eingeflüstert, hat er sie angewiesen, mit ihrem Gift das Große Sterben in die Welt zu bringen.»
Die Zuhörer grölten ihr Einverständnis heraus: «Nieder mit dem Judenvolk! Lasst die Juden brennen!»
Clara schauderte. Zugleich schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf, für den sie sich gleich darauf in Grund und Boden schämte. Sie dachte, welch ein Glück, dass es zwischen Esther und Benedikt endgültig vorbei war!
«Recht hat der Mann», rief ein Weib neben ihnen, und Clara erkannte die Flickschneiderin Thine. «Warum sonst ist das Pack von der Seuche so gut wie verschont geblieben?»
«Vielleicht, weil sie sich mehr waschen als du?» Clara ballte die Fäuste, und ihre Stimme wurde schrill. «Vielleicht, weil sie nicht jeden Fraß in sich reinstopfen und ihr Haus reinlicher halten?»
Sie stieß Thine grob zur Seite und bahnte sich ihren Weg durch die Menschenleiber. Heinrich hatte Mühe, ihr zu folgen.
«So kenne ich dich gar nicht», schnaufte er, als sie endlich vor dem Haus des kranken Handschuhmachers standen. «Ich meine, dass du dich zum Advocatus der Juden aufschwingst. Das war sehr mutig.»
Aber Clara verspürte keinen Stolz. Fast wunderte sie sich selbst, dass die Hetze gegen die Juden sie mehr und mehr aufbrachte. Es war tatsächlich so, dass in den letzten Wochen etwas mit ihr geschehen war. Immer heftiger quälte sie die Sorge um ihre jüdischen Nachbarn, immer häufiger schreckte sie nachts aus Albträumen auf oder fand erst gar keinen Schlaf.
Es gab in Freiburg indessen auch besonnene Stimmen, vor allem unter den Kaufherren. Seit jeher hatten sie sich um ein gutes Verhältnis zu den Juden bemüht, weil sie auf deren Geldverleih dringlich angewiesen waren, vor allem, was den Fernhandel betraf. Das Netz an jüdischen Wechselbänken und Leihhäusern nämlich reichte bis in die entlegensten Länder, ihre Beziehungen und ihr Sprachgeschick waren manchem Fernhändler unentbehrlich geworden. Überdies füllten sie mit ihren gesonderten Abgaben wie Neujahrs-, Synagogen- und Armenhausgeldern sowie Brücken- und Torgeldern die Stadtkasse nicht unerheblich. Zumindest für die Kaufmannschaft, die mit einigen Sitzen im Freiburger Rat vertreten war, gab es also genügend Gründe, am Judenschutz festzuhalten.
Dafür lag es für andere Bürger auf der Hand, warum der Rat hier, wie in Straßburg und Basel, nichts unternahm: Auf der Gasse munkelte man erst verhalten, dann immer offenherziger, dass einige Meister und Kaufherren, darunter auch Gottfried
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