Der Pestengel von Freiburg
Stadt seinen Bürgern befohlen hatte, jeden Morgen und jeden Abend zu beten, zumindest ein Paternoster, ein Ave Maria und ein Glauben, strömten die Menschen in Scharen in die Kirche. Die wenigsten teilten die Ansicht der Gelehrten, sofern sie denn überhaupt davon wussten, dass die Gestirne den Ausbruch von Seuchen hervorriefen. Vielmehr hielten sie es mit den Geistlichen, die darin eine Strafe Gottes sahen. Jeder Altar war besetzt, und hatte ein Kaplan seine Messe beendet, wartete bereits der nächste. Im Mittelschiff, wo sich das Volk versammelte, ließ Pfarrer Cunrat nicht nach in seinem Eifer, die Ursache der drohenden Pestilenz zu benennen. Mal brandmarkte er die Lästerung wider Gott und die Heiligen, mal all die abscheulichen Sünden wie Ehebruch, Sodomie oderWucherei. Nur wer bekenne und Buße tue, bleibe verschont von Gottes Zorn, werde Zuflucht finden unter seinen Fittichen und müsse sich nicht fürchten.
Selbst Clara, die sich sonst eher an den Leitsatz hielt, dass auch die tägliche Arbeit gottgefällig sei und dass der Herrgott dem Fleißigen ein paar Gebete weniger schon nachsehen würde, versäumte keinen Gottesdienst und fand Trost in den Worten der Psalmen, die der Pfarrer ihnen für diese Male in deutscher Sprache vortrug. Denn auch in ihr, die sich nicht einmal allein im Dunkeln fürchtete, machte sich eine unbestimmte Angst vor der todbringenden Seuche breit. Von ihrem Mann wusste sie, dass jeder, der die Krankheit erst einmal in sich trug, ihr wehrlos ausgeliefert war.
Aber auch etwas Wunderbares war in diesen Tagen, als der Sommer zu Ende ging, geschehen. Gottes Fügung hatte ihr Benedikt zurückgebracht. Dass es so einfach sein würde, ihn heimzuholen, hätte sie nie erwartet, und manchmal fragte sie sich, was geschehen war, dass er an jenem Abend nach der Messe so ohne Umschweife mit ihr nach Hause gegangen war. Sie würde es wohl nie erfahren. Vielleicht war er einfach nur vernünftig geworden, nachdem er viele Wochen Zeit zum Nachdenken gehabt hatte. Zwar wirkte er oft sehr bedrückt, aber das würde vorübergehen. Jedenfalls war sie überglücklich, ihren Ältesten wieder bei sich zu haben. Selbst wenn es nur eine Frage der Zeit war, bis Benedikt seinen Meistertitel haben und die eigene Familie gründen würde. Umso mehr wollte sie diese Zeit jetzt genießen.
Das ganze Haus war froh um seine Heimkehr, und sogar Heinrich verkniff sich seine oft abschätzigen Bemerkungen gegenüber dem Ältesten. Vor allem aber für Michel, der seinen großen Bruder über die Maßen verehrte, war es ein Geschenkdes Himmels. Er musste nicht mehr allein im Bett schlafen, jetzt, wo die Nächte wieder kälter wurden, ließ sich von Benedikt bei seinen Schreib- und Rechenübungen helfen und lieferte sich mit ihm jeden Abend eine freundschaftliche Rangelei, bevor Benedikt ihn ins Bett scheuchte.
Noch etwas anderes hat sich zum Guten verändert, dachte Clara, als sie an diesem Samstagabend zu Beginn des zweiten Herbstmonats zu Bett ging. Ihr Verhältnis zu Deborah Grünbaum war sichtlich entspannter, seitdem feststand, dass Esther noch vor dem jüdischen Pessachfest im Frühjahr heiraten würde. Nicht nur, dass sich die beiden Frauen auf der Gasse inzwischen freundlich grüßten, sie halfen einander auch aus, wenn im Haushalt einmal etwas fehlte. Und für morgen, einem Sonntagnachmittag, waren sie sogar zum Laubhüttenfest eingeladen.
Seit Tagen schon wohnten die Grünbaums mehr oder weniger Tag und Nacht in dieser Hütte, die sie wie jedes Jahr aus Schilfrohr, Tuch und Zweigen in ihrem Garten errichtet hatten. An den Nachmittagen drangen fröhliche Kinderstimmen und die Gebete und Lieder der Erwachsenen herüber, gegen Abend dann spielte Musik zum Tanz auf. Es war ein unaufhörliches Kommen und Gehen im Garten der Nachbarn.
Clara erinnerte sich, wie Benedikt als Junge immer darum gebettelt hatte, für diese Tage bei den Grünbaums wohnen zu dürfen. Moische Grünbaum nämlich und die Kinder übernachteten sogar in der Hütte, sieben Tage lang, ganz wie es die Thora vorschrieb. Gegen das Versprechen, seine Schwester Johanna mitzunehmen und gut auf sie achtzugeben, hatten sie ihn schließlich jedes Jahr für ein, zwei Nächte ziehen lassen. Sie selbst waren stets des Sonntags zum Essen und Trinken eingeladen gewesen, zusammen mit einer Handvoll andererChristen. Einmal, Benedikt musste zehn oder elf gewesen sein, hatte ein nächtlicher Gewittersturm die halbe Hütte weggefegt, und sie und Heinrich hatten am
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