Der Pestengel von Freiburg
nächsten Morgen geholfen, alles wieder aufzubauen. Danach hatte Clara sich geweigert, ihren Sohn jemals wieder dort übernachten zu lassen, und fortan waren sie auch nicht mehr eingeladen gewesen. Clara war sich seinerzeit sicher gewesen, dass Deborah dahintersteckte.
«Halt dich morgen bei den Grünbaums bloß mit deinen bissigen Bemerkungen zurück», hörte sie jetzt neben sich Heinrich aus der Dunkelheit herüber brummeln.
«Wo denkst du hin, Mann? Um ehrlich zu sein: Ich finde es schön, dass es wieder ist wie früher.»
Dabei wusste sie selbst, dass dem nicht so war. Benedikt nämlich würde als Einziger der Familie nicht mitkommen. Er hatte ihnen heute Mittag beschieden, dass er über das Wochenende ins Glottertal wandern wolle, um dort einen alten Freund aus seiner Zeit als Hüttendiener zu besuchen. Heinrich hatte ihn angeschnauzt, er sei feige und solle endlich den Dingen ins Auge sehen. Aber es war nichts zu machen.
Als sie sich am nächsten Tag, beladen mit einem Korb voll Obst als Gastgeschenk, zu ihren Nachbarn aufmachten, war der Himmel mit einem gleichmäßigen Grau überzogen. Doch immerhin war es windstill und regnete nicht, und so würde es sich im Freien gut aushalten lassen.
Deborah hieß sie am Eingang zu ihrem Garten willkommen.
«Friede sei mit euch!»
«Gott zum Gruß», gab Heinrich zurück, und Johanna überreichte ihre Gabe. Der Garten war bereits voller Gäste, um dieLaubhütte herum tobten die jüngeren Kinder beim Fangespiel. Clara gab Michel und Kathrin einen aufmunternden Klaps, woraufhin die beiden zu ihren Spielgefährten rannten.
Moische trat heran. «Ist denn der Benedikt nicht mitgekommen?»
«Er ist unterwegs zu einem Freund», gab Clara Auskunft.
«Das ist recht schad. Wo unser Jochai doch aus Speyer gekommen ist.» Er wies mit dem Kopf zu einer Gruppe junger Leute, die am Eingang der Hütte standen. «Er hat sich so auf euern Benedikt gefreut.»
Da erst entdeckte Clara den Zweitältesten der Grünbaums. Ums Haar hätte sie ihn nicht wiedererkannt. Jochai war unter den Söhnen der Einzige, der wie Esther das hübsche Gesicht der Mutter geerbt hatte, was ihn als Kind immer wie ein Mädchen hatte aussehen lassen. Jetzt aber war aus dem schmalen, zarten Knaben ein junger Mann geworden, dem ein richtiger Bart im Gesicht stand, wenn auch noch kein langer, spitzer Vollbart, wie ihn die erwachsenen Juden trugen.
«Wie groß er geworden ist!»
«Nicht wahr?» Moische nickte voller Stolz, und seine Äuglein hinter den faltigen Lidern strahlten. «Er ist jetzt sechzehn Jahr alt und einer der Besten in der Jeschiwa.»
Deborah klatschte in die Hände, als Zeichen, dass man sich in der Hütte zu versammeln hatte, und wies den Gästen ihre Plätze zu. Es wurde eng an der schmalen, langen Tafel, die mit gebleichtem Linnen bedeckt und mit Weinlaub und blauen Trauben reich geschmückt war. Clara kam neben Esther, Heinrich neben Moische zu sitzen. Ihr gegenüber saßen zwei fremde Männer mit langen Bärten, ein sehr junger und ein grauhaariger alter – die Einzigen, die Clara nicht wenigstens vom Sehen kannte. Das Grünbaummädchen neben ihr wirktebedrückt. Außerdem fiel ihr auf, dass sie erstmals als einzige Christen eingeladen waren.
Nachdem Moische den Segen über den Wein gesprochen hatte, füllte die Dienstmagd die Becher aller auf, um sich anschließend selbst mit an den reichgedeckten Tisch zu setzen.
Der Hausvater ergriff das Wort. «Liebe Clara, lieber Heinrich, ich möcht euch heut zwei ganz besondere Gäste vorstellen: Salomon ben Ariel, den Vorbeter und Schulmeister der Straßburger Gemeinde, und seinen jüngsten Sohn Uri, dem unser Töchterle versprochen ist.»
Salomon ben Ariel erhob sich kurz zum Gruße, während sein Sohn nickte und dabei verschämt grinste. Heinrich schüttelte den beiden herzlich die Hand und stellte seinerseits sich und seine Familie vor.
Clara war verblüfft. Damit hatte sie nicht gerechnet. Wie gut hatte Benedikt daran getan, nicht herzukommen! Sie wusste inzwischen, wie heftig das Liebesleid ihn die letzten Wochen gequält hatte, wie schwer es ihm noch immer fiel, Esther zu vergessen. Den Anblick hier auf Grünbaums Fest hätte er nicht ertragen: eine Esther, zusammengesunken zu einem Häufchen Unglück, und ein linkischer, äußerst blasser junger Mann mit eingezogenen Schultern, der die Hände unter der Tischplatte im Schoß verborgen hielt, unentwegt hilflos lächelte und einem nicht in die Augen zu blicken vermochte.
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