Der Pestengel von Freiburg
schon wollte sich keines von ihnen weiter als zehn Schritte von der Hütte entfernen. Sogar Johanna, die sonst kein Hasenfußwar, blieb in Rufweite. Clara gab sich alle Mühe, sie zu beschäftigen, indem sie ihnen wie zu Hause zahlreiche Aufgaben übertrug. Aber mit Reisigsammeln, Feuermachen, Wasserholen oder Kräutersuchen war der Tag nicht ausgefüllt. Und zu den Spielen, die sie vorschlug, hatte niemand Lust.
Heute Morgen nun, zu Beginn des vierten Tages, war geschehen, was sie befürchtet hatte: Die Kleinen wollten nach Hause. Während der Mahlzeit war ein einziges Quengeln und Jammern, bis Kathrin zu heulen anfing und Michel, mit dem ganzen Trotz eines Neunjährigen, sogar drohte auszureißen.
«Wart nur ab.» Er verschränkte die Arme und sah seine Mutter aus zusammengekniffenen Augen an. «Wenn du mal nicht achtgibst, lauf ich den Berg runter bis zum Fluss. Und von da find ich ganz allein nach Hause.»
Wie gut konnte Clara ihn verstehen. Zu ihren schlaflosen Nächten kam, dass sie bereits jetzt fast verging vor Sehnsucht nach Heinrich. Und erst recht vor Sorge. Wie sah die Lage in Freiburg aus? Wie viele neue Todesfälle hatte es inzwischen wohl gegeben? Welcher Gefahr setzte sich Heinrich bei seinen Krankenbesuchen aus? Ihre Hoffnung, dass die Seuche schnell an Freiburg vorüberziehen würde, war nahezu erloschen.
«Jetzt sei tapfer und halt aus.» Sie reichte Michel einen Kanten Brot. «Ihr müsst nur noch viermal schlafen, dann kommt Benedikt zu Besuch. Er bringt euch gewiss eine kleine Leckerei mit. Und damit euch nicht die Langeweile überkommt, gehen wir nach dem Essen zu dem Felsen, wo der heiligen Odilia das große Wunder widerfahren ist.»
Kapitel 21
B ehaimer strich mit verstohlener Befriedigung über seine prallgefüllte Geldkatze und deutete eine Verbeugung in Richtung des Ritters und dessen Ehegefährtin an.
Bis jetzt war die Angst der Leute vor der Pestilentia sein Schaden nicht. Und auch nicht die seines alten Freundes Jecklin, der am Kirchhof die größere der beiden Freiburger Apotheken führte. Seit jener denkwürdigen Ratssitzung letzte Woche fand Behaimer sich jeden Morgen im Haus Zum Elephanten ein, wo Jecklin ihm einen guten Tropfen Roten kredenzte, während seine bildschöne Tochter Jacoba am Arbeitstisch stand und den Tagesvorrat an Theriak abwog, für den er gut und gern den Monatsverdienst eines Taglöhners verlangen konnte. Behaimer hätte nicht sagen können, was ihn jeden Morgen mehr erfreute: die Aussicht auf guten Gewinn in den Häusern der Patrizier und Edlen, der samtig-würzige Geschmack des Weines auf der Zunge oder aber der Anblick des Mädchens mit seinen drallen Brüsten unter dem engen Gewand und dem goldblonden Haar, das in kecken Locken unter dem Tuch hervorlugte.
In Gedanken entschied er sich für Letzteres, während er dem Ritter Walther von Valkenstein durch die Eingangshalle zur Haustür folgte. Viel zu lange schon hatte er sich nämlich keine Weiber mehr ins Haus geladen. Das würde er gleich heute ändern.
«Ihr seid Euch also wirklich gewiss, Magister Filibertus, dass wir hiermit gefeit sind gegen die Pestilentia?»
«Aber ja, ehrenwerter Freund. Nehmt nur regelmäßig von dem Theriak. Täglich die Menge einer Haselnuss geschluckt sowie dergleichen Menge in die Nasenlöcher gestrichen, wirkt wahre Wunder! Und wie gesagt: Lasst bei Südwind alle Türen und Fenster verschlossen. Ansonsten kann ich nur immerfort wiederholen: Ein Überschuss an Hitze und Feuchtigkeit – im Körper wie in der Natur – erhöht die Gefahr der Fäulnis, und verpestete Miasmen oder faulige Nahrung könnten ein Übriges tun.»
Behaimer legte dem Ritter die Hand auf die Schulter – eine Geste der Vertraulichkeit, die er sich als ärztlicher Berater der Reichsten und Vornehmsten inzwischen erlauben durfte.
«Zu Eurer Beruhigung: Da bei Euch als ausgesprochener Melancholiker die kalte und trockene schwarze Galle überwiegt, seid Ihr weit weniger gefährdet. Gleichwohl sollte der Bader Euch zur Prophylaxe baldmöglichst zur Ader lassen. Erst recht die Frauen in Eurer Familie. Ihr wisst ja, das weibliche Geschlecht neigt per se an gewissen Tagen zu einem Übermaß an Feuchtigkeit.»
Als Behaimer wenig später hinaus auf den Kirchplatz trat, ging sein Blick unwillkürlich nach oben. Ausnahmsweise spannte sich heute der Sommerhimmel in klarem, wolkenlosem Blau über die Stadt. Warum nur war dieser verfluchte Pesthauch unsichtbar? Lag er womöglich genau über ihnen? Wäre er doch
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