Der Pestengel von Freiburg
war kein Paternoster später kraft seiner Worte, seines Eides und seiner Zeugen zum städtischen Pestarzt gesprochen.
Mehr als befriedigt verließ Behaimer das Rathaus und drückte sich in der brütenden Mittagshitze durch die Menschenmenge. Oben, am geöffneten Fenster, sah er Schultheißund Bürgermeister sich in Positur stellen, um das Stadtvolk über die künftigen Maßnahmen zu unterrichten. Mit halbem Ohr nur hörte Behaimer dem Ausrufer zu: Bei jeder neuen Erkrankung, und mute sie noch so harmlos an, seien Türen und Fenster der Krankenstube zu schließen und der Fall umgehend dem Rat der Stadt anzuzeigen. Plötzlich Erkrankte seien von Heinrich Grathwohl und nur von ihm und seinem Weib zu beschauen. Hingegen in der Wundarzney sei jener fürderhin nicht mehr hinzuzuziehen, wohl aber alle anderen Wundärzte, Scherer und Bader der Stadt. Hohe Strafe drohe bei Zuwiderhandlung. Durch striktes Einhalten erwähnter Maßnahmen sei ein Ausbruch der Seuche erst gar nicht anzunehmen. Daher fänden Kirchweih und Schützenfest heuer wie jedes Jahr statt, die Stadttore blieben wie in allen Friedenszeiten tagsüber geöffnet. Streng geahndet hingegen würden hinfort Zusammenrottungen auf der Gasse und vor dem Rathaus, desgleichen jegliches Lärmen und Pöbeln in Gruppen, desgleichen …
Endlich hatte Behaimer das Menschengewühl hinter sich gelassen und blieb stehen, um zu verschnaufen. Rock und Beinkleider klebten ihm auf der Haut, von Stirn und Nacken rann ihm der Schweiß wie Wasser herab, und höchstwahrscheinlich hingen ihm jetzt auch noch Läuse und Flöhe in Massen am Leib. Widerlich!
Plötzlich legte ihm jemand die Hand auf die Schulter. Es war Heinrich Grathwohl.
«Meinen Glückwunsch, großer Meister. Nun seid Ihr fein heraus, sollte die Seuche zum Ausbruch kommen.»
«Was willst du damit sagen?»
«Das wisst Ihr so gut wie ich. Allein beim Verdacht auf die Seuche seid Ihr von allen Pflichten entbunden und müsst eine Krankenstube nicht mal mehr betreten. Ihr schickt einfachnach dem alten Grathwohl, der wagt sich dann schon in die Höhle des Löwen. Und das auch noch unentgeltlich, denn ein Honorar darf ich als geschworener Pestarzt nicht verlangen.»
«Was beklagst du dich? Bekommst du nicht ein Fuder Holz mehr aufs Jahr für dieses Amt? Außerdem: Selbst dir steht frei, einen Kranken weiter zu behandeln, sollte er zweifelsfrei an Pestilentia erkrankt sein. Dann hast du nur noch die Pflicht, nach dem Priester zu rufen.»
«So mögt Ihr vielleicht handeln. Ich aber gebe einen Kranken nicht auf, solange noch der geringste Funken Hoffnung besteht. Aber darum geht es mir nicht.»
«Warum also stiehlst du mir dann meine kostbare Zeit?»
«Kostbar könnte sie fürwahr werden, Eure verbleibende Zeit. In Basel, keine zwei Tagesritte von hier, sterben die Menschen wie die Fliegen, ganze Häuserzeilen sollen schon leer stehen. In allen Einzelheiten wisst Ihr als Stadtarzt hierüber Bescheid, genau wie jeder dieser braven Ratsherren. Ist es nun Einfalt oder Hochmut, dass Ihr die Freiburger für dumm verkauft? Ich würde sagen: beides. Und ein Verbrechen obendrein. Pfui Teufel!» Grathwohl spuckte aus. «Geht mir am besten künftig aus dem Weg, Filibertus Behaimer.»
Als sie die kleine Kapelle verließen, die unverschlossen für jedermann offen stand, fühlte Clara sich spürbar ruhiger. Wie ein schützender Mantel umgab die Ottilienkapelle das Brünnlein, und gleichermaßen beschützt hatte sich Clara gefühlt, während sie vor dem Bildnis der Heiligen ihre Gebete verrichtet hatte.
Sie beschloss, jeden Tag hier herauf zu kommen. Vielleicht würde sie dann nachts wieder schlafen können. Nicht zuletzt war dieses Fleckchen Erde, wo sich einst der rettende Felsen für die verfolgte Herzogstochter aufgetan hatte, einzigartig schön.Das Waldheiligtum befand sich am oberen, sonnigen Ende eines tief in den Hang geschnittenen Tobels, auf luftiger Höhe. Von hier schweifte der Blick frei wie der eines Vogels über das Dreisamtal und die dunklen Bergrücken dahinter.
Auch die Kinder schienen mit dem Besuch der Ottilienquelle ein wenig abgelenkt zu sein von ihrem Heimweh. Bis auf Michel und Johanna kannten sie das Heiligtum nicht, und so hatten Kathrin, Eli und Jossele mit großen Augen um das helle, zerklüftete Felsgestein gestanden, aus dem das wundersame Wasser sprudelte. Clara erklärte ihnen, dass die Quelle weder bei Hitze versiegte noch bei großer Kälte gefror, vielmehr das Wasser in stetem Gleichmaß
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