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Der Peststurm

Der Peststurm

Titel: Der Peststurm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Wucherer
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nicht mehr der Alte und im Begriff, sich vom Paulus zum Saulus zu wandeln.
    Er war feige geworden und mittlerweile alles andere als ein würdiger Diener Gottes. Er diente nur noch dem, der ihm ausreichend Nahrung und Wein zur Verfügung stellen konnte. Und da er wusste, dass er das, was er zum Leben benötigte, zurzeit nur vom Totengräber erhalten konnte, diente er ihm zwar nicht, sah aber geflissentlich darüber hinweg, woher der seine feinen Nahrungsmittel bezog und mit welchem Geld er diese bezahlte. Der Propst hielt drei Mal in der Woche eine Heilige Messe ab, und das war es dann auch schon mit der Seelsorgerei. Um ja nicht in Kontakt mit den Gläubigen zu kommen, hatte er vor dem Altarraum eine dicke rote Kordel gespannt und davor ein Tischchen gestellt, auf dem noch bis vor ein paar Wochen nach der Gabenbereitung und dem Hochgebet ein Kelch gestanden hatte, in dem der Leib des Herrn gelegen hatte, den sich die Segensempfänger selbst hatten abholen müssen.
    Diesen Selbstschutz hatte er sich einfallen lassen, da ihm bei dem Gedanken grauste, den Gläubigen die gepressten Brotstücke in ihre verfaulten und dementsprechend stinkenden Mäuler legen zu müssen, und er sich fürchtete, dabei infiziert zu werden. Allerdings hatte er diese Art der Kommunionsdarreichung schnell wieder aufgeben müssen, weil es die hungrigen Messbesucher vorgezogen hatten, anstatt nur den Segen des Herrn die gesamten Brotscheibchen aus dem Kelch herauszunehmen und in ihren Taschen verschwinden zu lassen. Eines Tages hatte auch der Kelch gefehlt.
    Ansonsten verkroch sich der Kirchenmann am liebsten in sein Arbeitszimmer im Propsteigebäude, um an seinem vor drei Jahren begonnenen Repertorium weiterzuschreiben. Seine erste Eintragung betraf ein Gelübde des Reichsgrafen Hugo und seiner Gemahlin Maria Renata aus dem Jahre 1629, die aus Dankbarkeit dafür, dass Staufen in diesem deutschlandweiten Pestjahr gänzlich verschont geblieben war, in Weißach eine Kapelle errichten wollten. Die unglaubliche Tatsache, dass sich vor einigen Jahren, als die Pest im nahen Thalkirchdorf gewütet hatte, die Familie des Georg Köhler aus Salmas in einer Höhle zu Füßen eines Wasserfalles hatte retten können, war ihm keine Notiz wert, obwohl die Bewohner des Konstanzer Tales fast allesamt von der Pest ausgerottet worden waren. Neben vielen anderen mehr oder weniger interessanten Eintragungen beschrieb der Propst hingegen auch den Durchmarsch des schwedischen Regiments Baldering in Staufen durch das Konstanzer Tal nach Immenstadt, wo es 1632 Rast gemacht hatte, was die Stadt 3.000 Gulden gekostet hatte.
    Dies war wohl der Grund, warum das Gelübde des Regentenpaares lange nicht eingelöst werden konnte und der Bau der Pestkapelle in Weißach ein paar Jahre hatte warten müssen.
    An die Aufzeichnung der 69 Menschen, die im vergangenen Jahr allein durch den Medicus gestorben waren, und an die nicht enden wollende Bevölkerungsdezimierung dieses Jahres wagte er sich noch nicht heran. Zu schwer fiel es ihm auch jetzt noch, der Nachwelt davon zu berichten. Seit Wochen machte er sich Gedanken darüber, wie er das unglaubliche Elend in Worte fassen konnte. Jetzt aber legte er erst einmal eine Schreibpause ein und gönnte sich ein dickes Stück Speck, das er soeben vom Totengräber bekommen hatte. Der großzügige Spender freute sich derweil, dass der Kirchenmann dem Teufel aus der Hand fraß.
     
    *
     
    Ruland Berging war auf dem Weg zu seinem treuen Helfer, um auch ihm Brot und verschiedene Spezereien vorbeizubringen. Aber Fabio war nicht nach Essen zumute. Er hatte eine schlaflose Nacht hinter sich und musste sich ständig von seinem Lager erheben, um sich zu übergeben oder anderweitig zu entleeren. Seine Brechattacken kamen stets so heftig, dass er es nicht immer bis zur Haustür, einmal sogar nur bis zu einer Ecke des Flures geschafft hatte.
    Die lange Zeit, die er jetzt schon mit den grausamsten Facetten des Todes zu tun hatte, das Erlebnis mit den scheinbar lebenden Toten auf dem Scheiterhaufen, das Verhalten der Tiere in Bezug auf die vor den Häusern liegenden Pesttoten und letztendlich auch noch dieses alte Schwein, das sich vom Totengräber eine gerade erst verstorbene Jungfrau hatte bringen lassen, um daran sein abartiges Verlangen zu stillen, hatten den jungen Mann arg mitgenommen.
    Ruland Berging, der die Lebensmittel vor der Tür ablegte, rief mehrmals vergeblich nach Fabio. Den wird es doch nicht erwischt haben?, fuhr es ihm durch den Kopf.

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