Der Peststurm
»Verdammt!«
Kapitel 27
Obwohl der Kastellan noch vor Einbruch der Dunkelheit im Kloster Mehrerau hatte eintreffen wollen, war er mit seinem neuen Wegbegleiter Jodok aufgrund der lärmenden Menschenmenge, durch die ein Teil der Lauteracher Hauptstraße und die Nebenwege versperrt worden waren, nur langsam vorwärtsgekommen. Da es sein Pferd nicht gewohnt war, dass ein Reiter es an der langen Leine hielt und neben ihm herlief, schnaubte es unruhig. Als jetzt auch noch lautes Geschrei und das Gewimmel von nach Schweiß riechenden menschlichen Leibern hinzukamen, konnte der Kastellan sein zunehmend unruhiges Tier kaum noch bändigen. Aber nicht nur die junge, unerfahrene Stute, auch die beiden gestandenen, kräftigen Männer waren wegen der vielen aufgebrachten Menschen angespannt und packten instinktiv ihre Waffen am Heft. Nur mühsam konnten sie sich einen Weg durch das wilde Getümmel bahnen.
»Was ist hier los?«, wollte der Kastellan von einem Burschen wissen, der ihm aufgrund seines Verhaltens extrem vorlaut vorkam.
»Seid Ihr mit Blindheit geschlagen, edler Herr?«, fragte dieser keck zurück, während er nach vorne auf einen großen Scheiterhaufen zeigte. »Heute wird eine Hexe verbrannt«, fügte er seiner dreisten Frage die Antwort hinzu und triumphierte gerade so, als wenn er selbst etwas davon haben würde. »Ein blutjunges Weib«, sagte er noch in fast verschwörerischem Ton, bevor er wieder in das allgemeine Geschrei einstimmte.
Jodok stupste den Kastellan mit dem Ellbogen, um dessen Aufmerksamkeit zu bekommen. Er wollte die Gelegenheit nutzen, ihm einen Teil seines umfangreichen Wissens um die Hexenprozesse in dieser Gegend zu vermitteln: »Soviel ich weiß, ist es bereits 26 Jahre her, als in dieser Gegend der letzte aufsehenerregende Prozess über die vermaledeite Hexerei stattgefunden hat. Die Menschen wurden damals in Scharen denunziert, gejagt, gefoltert und umgebracht. Um Kosten zu sparen, ist in der vermutlich heute noch gültigen Reichsgerichtsordnung neben anderem eine Abweichung von der Constitutio Criminalis Carolina enthalten. Sie besagt, dass die Opfer nicht unbedingt einzeln angeklagt werden müssen, sondern auch massenweise abgeurteilt werden können. Im unseligen Jahr 1609 wurden allein in Bregenz sechzehn Menschen hingerichtet. Wenn man bedenkt, dass in jedem einzelnen Fall Beschuldigungen von drei unabhängigen Personen vorliegen mussten, bevor eine Frau oder ein Mann der Hexerei angeklagt werden konnte, muss es allein in diesem Fall fast ein halbes Hundert Denunzianten in Bregenz gegeben haben. Wenn ich daran denke, dass wahrscheinlich einige von denen heute noch leben und womöglich auch am Schicksal dieser bemitleidenswerten Sputtel Mitschuld tragen, schaudert es mich.«
Obgleich Jodok eigentlich weiter über die Hexenverfolgungen berichten wollte, unterbrach ihn Ulrich höflich:
»Verzeih. Deine Erzählung ist äußerst interessant. Da aber mein Pferd zu unruhig geworden ist, ziehe ich es vor, es an der kurzen Leine durch die Menschenmenge zu führen. Es wäre gut, wenn du vorangehen könntest.«
So führte Ulrich Dreyling von Wagrain die junge Stute mit sicherer Hand durch die wild durcheinanderschreienden Menschen am Scheiterhaufen vorbei, während Jodok durch seine bloße Anwesenheit den Weg frei machte und für ihre Sicherheit sorgte.
Beim Anblick des aus Holz errichteten Todbringers wurde ihnen ganz mulmig zumute. Wie schnell könnte auch ich denunziert, unwahrer Dinge angeklagt und verbrannt werden, dachten beide unabhängig voneinander, während sie dumpfen Trommelschlag vernahmen und sahen, wie Wachen aufzogen, sich in gebührendem Abstand rund um den Scheiterhaufen postierten und versuchten, die sensationslüsternen Menschen in den Griff zu bekommen.
»Lass uns weitergehen, bevor es hier so richtig losgeht! Wir können doch sowieso nicht helfen«, empfahl Jodok und beschleunigte seine Schritte. Dem Hünen fiel es allein schon durch sein angsteinflößendes Äußeres leicht, ihnen eine Schneise durch die staunende Menschenmenge zu bahnen. Obwohl einige Jodok zuwinkten und ihn zu kennen schienen, hatten die meisten noch nie so einen Riesen gesehen.
Jodoks aufgesetzt strenger Blick und seine imposante Waffe leisteten einen guten Beitrag zum Vorwärtskommen.
»Ich gehe davon aus, dass du anstelle dieses menschenverachtenden Spektakels lieber einen Becher Wein vor deinen Augen haben möchtest«, schlug Ulrich vor.
»Na klar! Wenn du bezahlst. Da vorne,
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