Der Pfad der Dolche
Erwartung um so schlimmer wurde, je länger man die Macht lenkte.
»Achtet auf Aviendha«, wies Nynaeve Talaan an. »Sie weiß, wie man...« Sie gewahrte Elaynes Gesicht und stieß hastig hervor: »Achtet darauf!«
Es war nicht genau das gleiche, als wenn man ein Angreal benutzte, wenn es dem auch sehr nahe kam. Es war auch nicht vorgesehen, es eilig zu tun. Nynaeves Berührung war, milde ausgedrückt, nicht sanft. Elayne fühlte sich, als würde sie geschüttelt. Physisch geschah nichts, aber in ihrem Kopf sprang sie scheinbar umher und stürzte dann einen steilen Hang hinab. Schlimmer noch, sie wurde mit quälender Langsamkeit auf die Umarmung Saidars zu gedrängt. Es dauerte kürzer als einen Herzschlag und schien doch Stunden, Tage zu dauern. Sie wollte schreien, aber sie konnte nicht atmen. Dann floß die Eine Macht jäh durch sie hindurch, wie ein berstender Damm, ein Ansturm von Leben und Freude, von Entzücken, und der Atem wich in langen Zügen des Vergnügens und einer solch großen Erleichterung aus ihr, daß ihre Beine zitterten. Sie konnte nur mühsam ein Keuchen unterdrücken. Sie zog sich taumelnd hoch und sah Nynaeve finster an, und Nynaeve zuckte entschuldigend die Achseln. Zweimal an einem Tag! Die Sonne mußte grün werden.
»Ich kontrolliere jetzt ihren wie auch meinen Strom Saidar«, fuhr Nynaeve fort, ohne Elaynes Blick wirklich zu begegnen, »und werde es weiterhin tun, bis ich Elayne loslasse. Befürchtet nun nicht, daß derjenige, der den Kreis anführt«, sie warf Caire einen finsteren Blick zu und schnaubte, »Euch dazu bringen kann, zuviel Macht heranzuziehen. Dies ist einem Angreal sehr ähnlich. Das Angreal fängt zusätzliche Macht vor Euch ab, und ungefähr auf die gleiche Weise könnt Ihr in einem Kreis nicht dazu gebracht werden, zuviel Macht heranzuziehen. Tatsächlich könnt Ihr in einem Kreis nicht ganz soviel Macht heranziehen wie son...«
»Das ist gefährlich!« unterbrach Renaile sie und drängte sich grob zwischen Caire und Tebreille hindurch. Ihr finsterer Blick schloß auch Nynaeve, Elayne und die Schwestern, die abseits vom Kreis standen, mit ein. »Ihr sagt, daß eine Frau eine andere einfach ergreifen, gefangenhalten, benutzen kann? Wie lange wißt Ihr Aes Sedai das schon? Ich warne Euch - wenn Ihr es bei einer von uns anzuwenden versucht...« Jetzt wurde sie unterbrochen.
»So geht das nicht, Renaile.« Sareitha berührte Garenia, und sie und Kirstian stoben auseinander, um ihr Platz zu machen. Die junge Braune sah Nynaeve unsicher an, faltete dann die Hände und nahm einen belehrenden Tonfall an, als spräche sie zu einer Schulklasse. Damit kehrte auch ihre Haltung zurück. Vielleicht sah sie Renaile in diesem Moment tatsächlich als Schülerin an. »Die Burg hat dies viele Jahre lang, schon lange vor den Trolloc-Kriegen, studiert. Ich habe jede Seite gelesen, die von jener Forschung in der Burg-Bibliothek überdauert hat. Es wurde überzeugend bewiesen, daß sich eine Frau nicht gegen den Willen einer anderen Frau mit ihr verbinden kann. Es kann einfach nicht geschehen. In diesem Fall passiert nichts. Bereitwillige Hingabe ist notwendig, genau wie das eigene Umarmen Saidars.« Sie klang vollkommen überzeugt, aber Renaile runzelte noch immer die Stirn. Zu viele Menschen wußten, wie Aes Sedai den Eid, der das Lügen verbot, umgehen konnten.
»Und warum hat die Burg es erforscht?« fragte Renaile. »Warum war die Weiße Burg daran so interessiert? Vielleicht forscht Ihr Aes Sedai noch immer daran?«
»Das ist lächerlich.« Sareithas Stimme klang verärgert. »Wenn Ihr es wissen wollt, hat die Auseinandersetzung mit Männern, die die Macht lenken können, sie dazu geführt. Die Zerstörung der Welt war damals für einige noch eine lebendige Erinnerung. Vermutlich erinnern sich nicht mehr sehr viele Schwestern daran - es gehörte nicht zu der notwendigen Unterweisung seit der Zeit vor den Trolloc-Kriegen -, aber Männer können auch in den Kreis mit eingebracht werden, und da der Kreis nicht bricht, selbst wenn man schläft... Nun, Ihr könnt die Vorteile erkennen. Das war leider ein grundlegendes Versäumnis. Um wieder auf uns zurückzukommen, behaupte ich erneut, daß es unmöglich ist, eine Frau in einen Kreis zu zwingen. Wenn Ihr meine Worte anzweifelt, versucht es selbst. Ihr werdet es sehen.«
Renaile nickte und akzeptierte damit letzteres. Man konnte nur wenig mehr tun, wenn eine Aes Sedai eine einfache Tatsache feststellte. Und doch fragte sich Elayne:
Weitere Kostenlose Bücher