Der Pfad der Winde - Sanderson, B: Pfad der Winde - The Way of Kings - The Stormlight Archive, Book 1 (Part 2)
noch ungeahnte, höchst seltsame Kräfte.
Die Soldaten zogen das Gitter des Ausfalltors für den Späher hoch. Dalinar traf eine plötzliche Entscheidung und schoss auf die Öffnung zu. Hinter ihm bahnte sich der Offizier, den Dalinar vorhin gesehen hatte, einen Weg durch die Masse der Soldaten und trat auf die Schießscharte zu.
Dalinar erreichte das offene Tor und glitt im selben Augenblick hindurch, in dem der Späher in den Innenhof preschte. Entsetzt riefen einige Männer Dalinar etwas zu. Er beachtete sie aber nicht und rannte auf die Ebene. Über ihm erstreckte sich die breite Mauer wie eine Straße, die zur Sonne führte.
Die Strahlenden waren noch weit entfernt – jetzt waren sie innerhalb der Reichweite der Bögen stehen geblieben. Wie gelähmt vom Anblick der wunderschönen Gestalten wurde Dalinar langsamer und blieb schließlich in einer Entfernung von etwa hundert Fuß vor ihnen stehen.
Einer der Ritter trat aus der Reihe seiner Gefährten hervor. Sein strahlender Umhang war von einem tiefen Blau. Seine Splitterklinge aus gewelltem Stahl wies verwickelte Einritzungen in der Mitte auf. Einen Augenblick lang streckte er sie der Festung entgegen.
Dann rammte er sie mit der Spitze in den Felsboden der Ebene. Dalinar kniff die Augen zusammen. Der Splitterträger zog seinen Helm aus und enthüllte ein schönes Haupt mit blondem Haar und blasser Haut, die so hell wie die eines Mannes aus Schinovar war. Er warf den Helm zu Boden neben das Schwert. Dann ballte der Splitterträger die Fäuste und öffnete sie wieder. Die Panzerhandschuhe fielen ebenfalls auf den Steinboden.
Er drehte sich um – und der Splitterpanzer löste sich von seinem Körper. Der Brustschutz fiel von ihm ab, die Beinschienen folgten. Darunter trug er eine zerknitterte blaue Uniform. Er stieg aus seinen stiefelartigen Sabatons und zog sich zurück. Splitterpanzer und Schwert – das Kostbarste, was ein Mensch besitzen konnte – lagen wie Abfall auf der Erde.
Die anderen folgten seinem Beispiel. Hunderte Männer und Frauen rammten ihre Splitterklingen in den Stein und zogen ihre Rüstungen aus. Es klang zunächst wie Regen und dann wie Donner, als das Metall auf den Boden traf.
Dalinar bemerkte, dass er voranlief. Das Tor hinter ihm wurde geöffnet, und einige neugierige Soldaten verließen die Festung. Dalinar erreichte die Splitterklingen. Sie sprossen wie glitzernde silberne Bäume aus dem Felsboden hervor – ein Wald aus Waffen. Sie glimmerten sanft auf eine Weise, wie es
seine eigene Splitterklinge nie getan hatte. Als er aber zwischen ihnen herumlief, verblasste ihr Licht allmählich.
Ein schreckliches Gefühl überkam ihn. Es war die Ahnung einer gewaltigen Tragödie aus Schmerz und Verrat. Er blieb stehen, keuchte auf und fuhr sich mit der Hand an die Brust. Was war hier los? Was war das für ein furchtbares Gefühl, unter dem er aufschrie und das er beinahe hören konnte?
Die Strahlenden. Sie wichen von ihren abgeworfenen Waffen zurück. Nun waren sie keine Masse mehr; jeder ging einzeln davon: als ein klar unterscheidbares Individuum. Dalinar lief ihnen nach und stolperte dabei über abgeworfene Brustpanzer und andere Rüstungsteile. Schließlich ließ er all dies hinter sich.
»Wartet!«, rief er.
Niemand drehte sich um.
Nun sah er in der Ferne noch weitere Personen. Es waren Soldaten, die keine Splitterpanzer trugen und auf die Rückkehr der Strahlenden warteten. Wer waren sie, und warum waren sie nicht vorgerückt? Dalinar holte die Strahlenden ein – sie gingen nicht sehr schnell – und packte einen von ihnen am Arm. Der Mann drehte sich um. Seine Haut war gebräunt und sein Haar so dunkel wie das eines Alethi. Seine Augen waren vom blassesten Blau. Es war eine unnatürliche Farbe; die Iris schien beinahe weiß zu sein.
»Bitte«, sagte Dalinar, »sag mir, warum ihr das tut.«
Der frühere Splitterträger befreite sich aus Dalinars Griff und ging weiter. Dalinar fluchte und rannte mitten unter die Splitterträger. Sie entstammten allen Rassen und Nationen, hatten helle oder dunkle Haut, einige hatten die weißen Brauen der Thaylener, andere die Hautkräuselungen der Selay. Sie gingen mit geradeaus gerichtetem Blick, redeten nicht miteinander, und ihre Schritte waren zwar langsam, aber zielstrebig.
»Kann mir irgendjemand den Grund dafür erklären?«, rief Dalinar. »Das ist der Tag der Wiedererschaffung, nicht wahr?
Der Tag, an dem ihr die Menschheit verraten habt. Aber warum?« Keiner sagte ein Wort. Es
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