Der Pfad der Woelfin
wie damals, als er mich noch in seiner Hütte vor den bösen Menschen versteckte, von denen er glaubte, sie wollten mich ihm wegnehmen.
In dieser Nacht hatte er mir einiges verraten, was ich noch nicht wußte.
Zum Beispiel, daß er fürchtete, der Wolf, der Lecocks Hof heimgesucht hatte, könnte uns gefolgt sein. Von Perpignan nach Verdette.
»Wie kommst du nur darauf?«
Da erzählte er mir, daß dieser Wolf über Jahre sein Unwesen in den Pyrenäen und in der Stadt getrieben hatte.
Und daß auch Mutter ihm zum Opfer gefallen war.
Ich war zu Tode erschrocken und verlangte mehr darüber zu hören. Aber er lächelte traurig und verwies mich, wie so oft, auf später. Wenn ich älter wäre.
Und dann, ehe ich ihn weiter drängen konnte, hatte er mir von seinem Traum erzählt.
Der Sehnsucht nach einem Leben in Freiheit, in einem weiten Land, wo wir beide von niemandem gehänselt oder verstoßen werden konnten und wo die Frage, wie man sich das nächstemal sattessen konnte, nicht den ganzen Lebensinhalt bestimmte.
Er beschrieb mir seine Vision in allen Einzelheiten: Ein Land, in dem genügend Essen für jedermann auf den Bäumen wuchs. Es gehörte niemandem und allen. Die Sonne brannte Sommer wie Winter von einem wolkenlosen, strahlend blauen Himmel. (Wie deine Augen! hatte Vater geschwärmt. Ganz ohne Tupfer? hatte ich zurückgefragt.) Angeblich, so erzählte man sich, regnete es so selten, daß dies die einzige Schattenseite des Paradieses war.
Aber dies war für uns, die wir so oft von Regen durchweicht worden waren, kein nachvollziehbares Übel. Damals nicht ...
»Was wollt ihr?«
Die dröhnende Stimme holte mich wieder in die Gegenwart und in diesen Schmelztiegel unterschiedlichster Naturen zurück. Vater hatte sich zum Wirt vorgekämpft, und dieser beugte sich mißmutig über die schmutzige Theke zu ihm herüber.
»Ich suche Arbeit!«
Ich merkte, daß er all seinen Mut zusammennahm, aber der Wirt, in dessen Narbengesicht eine plattgedrückte rote Nase prangte, fluchte nur und schlug mit der Faust so heftig auf den Tresen, daß ein paar leere Krüge zu wackeln und gegeneinander zu klirren begannen. »Ich meinte, was ihr trinken wollt! Hier ist keine Anlaufstelle für schwer vermittelbare Landratten oder bärtige Kindermädchen!«
Die Quittung dieser hinausposaunten Beleidigung war Gelächter, das nun auch auf die Umstehenden übergriff. Daraufhin fielen noch boshaftere Bemerkungen. Vater und ich erhielten Stöße und Knuffe von allen Seiten.
Ich fing an zu jammern, in der Hoffnung, sie hätten ein Einsehen.
»Vielleicht . kennt Ihr ja jemanden, der Männer sucht, die sich für nichts zu schade ist ...«, sagte Vater kleinlaut.
Das Gejohle verstummte auf eine Geste des Wirts hin, der seine Gäste voll im Griff zu haben schien. Dann wurde deutlich, daß er nur Ruhe befohlen hatte, um selbst noch brutaler dazwischenschla-gen zu können.
»Für nichts zu schade, he? Mach, daß du wegkommst! Und nimm deinen Braten mit, sonst kommt er in die Pfanne!«
Er holte mit der Faust aus, als wollte er Vater die Nase brechen. Er wich zurück. Ich duckte den Kopf unter seine Achselhöhle, während er sich mit mir durch die jauchzenden und auf den Dielenboden trampelnden Matrosen zur Tür kämpfte.
Als wir endlich wieder draußen auf der Hafenstraße standen, keuchte Vater: »Diese gewissenlosen Kerle!«
Ich wollte ihn trösten, doch in diesem Augenblick schwang über uns ein zuvor verschlossener, doppelflügeliger Fensterladen auf, und eine zwar resolute, aber durchaus wohlgesinnte Stimme rief: »Kommt herauf! Wir müssen reden!«
Es war eine Frau, aber man hatte kaum etwas von ihr sehen können. Sie war wieder ins Innere des Zimmers zurückgetreten.
Vater blickte hinauf, dann wieder dorthin, wo wir gerade hochkant herausgeflogen waren. »Aber -«, setzte er an.
»Nichts aber! Nehmt die Hintertreppe! Ihr stoßt genau darauf, wenn ihr die Lücke neben dem Wirtshausschild entlanggeht .«
Vater sah mich an. Ich erwiderte seinen Blick und nickte.
Die Stimme hatte etwas Besonderes; etwas, von dem ich meinte, ihm vertrauen zu können.
Ich närrisches Kind, ich .
*
Vater klopfte an die Holztür.
»Es ist offen!« rief die Stimme von drinnen. »Es ist immer offen ...«
Ich stand zu Vaters Linken, als er öffnete und wir nebeneinander in den dämmrigen Flur traten.
Es waren die letzten Nachmittagsstunden dieses Novembertages. Die Sonne hatte sich hinter dunstige Wolkenschleier zurückgezogen, als wollte sie ihr
Weitere Kostenlose Bücher