Der Pfad des Zorns - Das Buch und das Schwert 1: Buch & Schwert 1 (German Edition)
Hof. Seite an Seite blickten sie über die Stadt hinweg. Die Dächer von Masalia nahmen langsam einen warmen Goldton an. Im Hafen lagen Dreimaster vor Anker, und die Sonne schien sich einen leuchtenden Weg über das ruhige Meer zu bahnen.
Nachdenklich betrachtete Laerte den Krug, den der alte Mann an die Lippen führte, und nickte resigniert. Noch wirkte Dun nicht betrunken, aber wie viel Zeit würde bleiben, ehe ihm der Wein zu Kopf stieg? Plötzlich hörte er es plätschern. Mit abwesender Miene hatte Dun den Krug gekippt und ließ die rote Flüsssigkeit auf die Kiesel rinnen.
»Eigentlich wollte ich Abschied feiern, Kleiner, aber ich habe irgendwie keine Lust auf das Zeug.«
Laerte starrte ihn nur an. Mit einem traurigen Lächeln verfolgte Dun den dünnen Weinstrahl, der aus dem Krug tröpfelte. Ihm war, als könnte er zusehen, wie seine Gewissensbisse Tropfen für Tropfen im Hof versickerten.
»Wenn ich euch richtig verstanden habe, bin ich heute Abend wieder frei.«
»Sobald wir das Haus verlassen haben, kommt eine Kutsche, um dich abzuholen, und bringt dich, wohin du willst. De Page war bereit, dir so viel zu geben, dass du noch ein paar Jährchen damit überleben kannst«, gab Laerte mit kratziger Stimme zurück.
»Er kauft mich? So einer ist er also!«, stellte Dun mit unwilligem Lachen fest. »Bisher hat er sich gut verstellt.«
Am liebsten hätte Laerte ihm verraten, was ihn erwartete, hätte ihn getröstet und ihn heiter gesehen, bevor er ihn für immer verließ. Dass aus Dun ein armseliger Trinker geworden war, betrübte ihn, denn während seiner Lehrjahre hatte er ihn schätzen gelernt und ihn all die Jahre als stolzen General im Gedächtnis behalten. Zu schade, dass er inzwischen der dürftige Schatten eines Ritters auf der Schwelle zum Tod geworden war.
Und doch war sich Laerte inzwischen über seine wahren Gefühle im Klaren. Auch wenn er es noch nicht aussprechen konnte, wusste er, dass er Dun liebte.
Laerte zögerte einen Moment. Sollte er dem alten Mann die Hand auf die Schulter legen?
Aber er bewegte sich nicht. Erneut glitt sein Blick über die Stadt zu ihren Füßen.
»Es wird sich im Palatio abspielen, nicht wahr?«, fragte Dun plötzlich und räusperte sich.
Laerte schwieg.
»Er hat das Liaber Dest , Junge«, fuhr er fort und ließ den leeren Krug fallen. Er zerbrach. Die letzten Weinreste versickerten zwischen den Kieseln.
»Damit hält er das Schicksal der Menschen in seinen Händen.«
»Möglicherweise«, versetzte Laerte, ohne den Blick von den Dächern zu wenden.
»So viel Macht verdient er nicht.«
»Das ist sicher.«
»Hindere ihn daran, Sohn!«
Die Zeit schien sich endlos zu dehnen, ehe sich Laerte doch noch entschloss, seinem ehemaligen Meister sanft die Hand auf die Schulter zu legen. Gleich darauf wandte er sich verlegen ab und ging auf das Haus zu.
»Grenouille«, rief Dun ihm leise nach.
Laerte drehte sich um. Der Schein der untergehenden Sonne legte einen Glorienschein um die gebeugte Gestalt des alten Kriegers. Plötzlich schien er zu seiner früheren Größe zurückzufinden, und beim Klang seiner Stimme, ohne jedoch im Gegenlicht sein Gesicht erkennen zu können, kam es Laerte vor, als wäre er noch so bewundernswert wie damals in den Zeiten seiner größten Herrlichkeit.
»Bist du der geworden, der du werden wolltest, mein Junge? Bist du ein Ritter oder ein Mörder?«
Duns Stimme klang sicher, aber eine Spur traurig.
»Macht das irgendeinen Unterschied?«, fragte Laerte leise.
Dun trat einen Schritt nach vorn. Mit einem Mal fiel ein Sonnenstrahl auf sein faltiges Gesicht. Der alte Mann wirkte plötzlich ganz anders – seltsam ruhig, abgeklärt und weise.
»Für dich und mich gibt es einen Unterschied. Erinnerst du dich noch an deinen Treueschwur? Wir haben ein Versprechen abgelegt.«
»Ja, das Versprechen, dem Kaiser zu dienen«, antwortete Laerte ohne jede Feindseligkeit.
»Nein, der Schwur reicht noch viel weiter. Es geht um den Weg, den du einschlägst. Was ist zum Beispiel, wenn du heute Abend Esyld über den Weg läufst? Lässt du dich dann von deinem Zorn hinreißen?«
Laerte verkrampfte sich. Daran wollte er nicht denken. Er wollte es sich nicht vorstellen, sondern sich einzig auf sein Ziel konzentrieren. Die Erwähnung ihres Namens jedoch entfesselte in ihm einen Sturm, von dem er fürchtete, ihn nicht beherrschen zu können.
»Aber genau darum geht es bei dem Versprechen, das du gegeben hast. Erinnere dich. Der Pfad des Zorns führt in
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