Der Pfad des Zorns - Das Buch und das Schwert 1: Buch & Schwert 1 (German Edition)
Deut um das, was er in seinem langen Leben durchgemacht hatte.
»Ich soll Euch also meine Geschichte erzählen?«, seufzte er. »Aber wo soll ich beginnen?«
»Wie wäre es zum Beispiel mit Grenouille?«
Violas grüne Augen verschlangen ihn. Er hatte den Eindruck, dass er nichts anderes mehr sah. Die Taverne verschwand. Sein Blut rann heiß durch seine Adern, sein Körper schien wie in Watte gebettet. Violas glänzender Blick erhielt ihn aufrecht. Wie ein Leuchtturm, der einem schiffbrüchigen Matrosen den Weg weist.
»Grenouille«, nickte er.
Und er begann zu erzählen.
Er sprach davon, wie er den Jungen in den Sümpfen kennengelernt hatte, von den vielen Monaten in den Salinen und ihrer Flucht unter dem Sternenhimmel. Er verweilte nicht bei Einzelheiten, sondern erzählte nur, wie er Grenouille in der Ebene hinter dem Wald schließlich wiederfand. Alles kehrte zu ihm zurück, als hätte es sich erst am Vortag abgespielt. Nur allzu gut erinnerte er sich an das schmerzverzerrte Gesicht seines Zöglings. Doch es war nicht sein Körper, der litt. Der Kleine hatte einen Menschen getötet und kam nicht über dessen fassungslosen, für alle Ewigkeit eingefrorenen Gesichtsausdruck hinweg, nachdem er ihm sein Holzschwert in den Hals gebohrt hatte. Aus dem zerfetzten Fleisch quoll ein roter Strom, eine klebrige, dampfende Flüssigkeit. Dun wusste nur zu gut, wie stark der Anblick von Blut, das aus einem Körper sprudelte und das Leben mit sich nahm, einen Menschen bis in die Grundfesten erschüttern konnte.
Mit wenigen Worten beschrieb er die Weiterreise nach Emeris und streifte lediglich die Zwischenstation in Garmaret, wo die kaiserliche Armee nach ihrer Vertreibung aus den Salinen ihre Lager aufgeschlagen hatte.
Nur die Ankunft im Emeris zählte.
»Wie groß ist sie?«, fragte Grenouille.
»Wie groß?« Dun musste lachen.
Es war jetzt ein Jahr her, dass sie sich kennengelernt hatten. Sie ritten einen mit Eichen bestandenen Weg entlang. In ihren schwarzen, schlammbespritzten Umhängen sahen sie aus wie ganz normale Reisende. Die schmächtige Gestalt des Jungen war markanter geworden; man erkannte bereits die Vorstufe zum Mann. Das Kind war in den Salinen zurückgeblieben, zusammen mit der Leiche eines kahlköpfigen Hauptmanns. Grenouilles Blick unter der Kapuze war nach wie vor düster, doch sein Gesichtsausdruck hatte sich auf angenehme Art besänftigt.
Auch Dun hatte sich verändert. Seine von den kargen Monaten im Sumpf ausgehöhlten Wangen hatten ihre ursprüngliche Form wiedergefunden. Sein unrasiertes Gesicht zeigte, dass sie schon wieder tagelang auf den Straßen des Reichs unterwegs waren, nachdem sie eine Zwischenstation eingelegt und die Annehmlichkeiten eines heißen Bads und eines bequemen Betts genossen hatten.
Seit ihrer Flucht waren zwei Monate vergangen, und ein Monat, seit sie sich im Fort von Garmaret eine Pause gegönnt hatten. In den vergangenen Wochen waren sie durch die alten Königreiche geritten und hatten feststellen müssen, dass sich der Aufstand wie ein Wundbrand durch die Regionen fraß und das angeschlagene Kaiserreich an allen Enden erschütterte.
Sie hatten sich mit Gesindel geprügelt. Sie waren vielen Gefahren begegnet. Aber während der langen Reise hatten sie sich auch gegenseitig schätzen gelernt. Und schließlich waren sie in Emeris angekommen. Nur das allein zählte jetzt noch.
Jeden Tag hatte der Junge Fortschritte gemacht. Jeden Tag war er dem Ziel näher gekommen, das er sich selbst gesteckt hatte. Und jeden Tag füllte sich Duns Herz erneut mit Stolz, was er jedoch unter einer harten Maske und harscher Autorität zu verbergen wusste. Nie erhielt der Junge ein Kompliment oder ein Lob; Dun begnügte sich stets mit einem zufriedenen Nicken. Dennoch schien sich der Junge nicht darüber zu ärgern.
»Ist sie zweimal so groß wie Guet d’Aëd?«, fragte Grenouille.
Über die Schulter lächelte Dun ihm spöttisch zu.
»Dreimal? Oder gar zehnmal?« Der Junge staunte nur noch.
»Das kannst du sehr bald selbst entscheiden, Kleiner.«
Der Weg vor ihnen schlängelte sich zwischen Bäumen hindurch, die Spalier zu stehen schienen. Und dann, ganz plötzlich, lag sie vor ihnen.
Am Rand einer steilen Klippe, über den sich ein tosender Strom stürzte, breitete sich eine stolze, gewaltige Stadt aus. Silberne Türme erhoben sich über hohe Gebäude, und auf der Spitze des höchsten Turms spiegelte sich die Mittagssonne.
Grenouille verschlug es die Sprache. Seit ihrer Flucht
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