Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Pfad im Schnee

Der Pfad im Schnee

Titel: Der Pfad im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
Vom Netzwerk:
täglich trainiert hatte, waren die Muskeln in meinen Handgelenken und Armen kräftiger und biegsamer geworden und ich schien endlich die Verletzung meiner rechten Hand überwunden zu haben, die Akio mir in Inuyama beigebracht hatte. Zuerst hatte sich die Stange angefühlt wie ein widerspenstiges Pferd, das sich gegen die Trense wehrt; nach und nach hatte ich gelernt, damit umzugehen, bis ich sie so geschickt handhabte wie ein Paar Essstäbchen.
    Beim Üben war diese Präzision so nötig wie im wirklichen Gefecht, denn mit einer falschen Bewegung schlug man einen Schädel ein oder brach ein Brustbein. Wir hatten so wenig Männer, dass wir keine Toten oder Verletzten beim Training riskieren konnten.
    Eine Welle der Müdigkeit überschwemmte mich, als ich die Stange in Angriffsstellung hielt. Ich hatte in der Nacht zuvor kaum geschlafen und seit dem Abendessen nichts mehr zu mir genommen. Dann dachte ich an Kaede, sah ihre Gestalt, wie ich sie zuvor auf der Veranda gesehen hatte. Energie durchströmte mich wieder. In diesem Bruchteil einer Sekunde war mir klar geworden, wie unentbehrlich sie für mich war. Sie war mein Leben; sie machte mich ganz.
    Normalerweise war ich kein Gegner für Matsuda. Aber etwas hatte mich verwandelt, hatte alle Elemente des Trainings zu einem Ganzen verschmolzen: Ein zäher, unzerstörbarer Geist floss vom Kern meines Seins in den Schwertarm. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass ich vierzig Jahre jünger war als Matsuda. Ich sah sein Alter und seine Verletzlichkeit. Ich sah, dass er mir ausgeliefert war.
    Ich bremste meinen Angriff und senkte die Stange. In diesem Moment fand sein Stock die ungeschützte Stelle und traf mich seitlich am Hals mit einem Hieb, von dem mir schwindlig wurde. Zum Glück hatte er nicht mit ganzer Kraft zugeschlagen.
    Seine Augen, die sonst immer gelassen blickten, funkelten vor Zorn.
    »Das soll Ihnen eine Lehre sein«, brummte er. »Erstens nicht zu spät zu kommen und zweitens nicht auf Ihr weiches Herz zu hören, wenn Sie kämpfen.«
    Ich wollte etwas sagen, aber er ließ mich nicht zu Wort kommen. »Widersprechen Sie nicht. Zum ersten Mal geben Sie mir zu verstehen, dass ich mit Ihnen nicht meine Zeit vergeude, und dann nehmen Sie wieder alles zurück. Warum? Doch hoffentlich nicht aus Mitleid mit mir?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    Er seufzte. »Mich können Sie nicht täuschen. Ich habe es in Ihren Augen gesehen. Ich sah den Jungen, der letztes Jahr hierher kam und von Sesshu beeindruckt war. Ist es das, was Sie sein wollen? Ein Künstler? Ich sagte Ihnen damals, dass Sie zurückkommen und lernen und zeichnen können - ist es das, was Sie wollen?«
    Ich wollte nicht antworten, aber er wartete, bis ich etwas sagte. »Ein Teil von mir will es vielleicht, aber jetzt noch nicht. Zuerst muss ich Shigerus Befehle ausführen.«
    »Sind Sie davon überzeugt? Werden Sie sich dem voll und ganz widmen?«
    Sein Ton bewies mir, wie ernst es ihm war, und ich antwortete ebenso: »Ja, das werde ich.«
    »Sie werden viele Männer führen, manche in den Tod. Sind Sie sich Ihrer selbst sicher genug, um das zu tun? Wenn Sie eine Schwäche haben, Takeo, dann diese. Sie empfinden zu viel Mitleid. Ein Krieger braucht mehr als ein bisschen Grausamkeit, mehr als einen Schuss schwarzes Blut. Viele, die Ihnen folgen, werden sterben und Sie werden viele töten. Sobald Sie diesen Weg einschlagen, müssen Sie ihn bis zum Ende gehen. Sie können Ihren Angriff nicht bremsen oder Ihre Deckung vernachlässigen, weil Sie Mitleid mit dem Gegner haben.«
    Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. »Es wird nicht wieder geschehen. Ich wollte Sie nicht beleidigen. Verzeihen Sie mir.«
    »Ich verzeihe Ihnen, wenn Sie den Kampf wieder aufnehmen und den Angriff vollenden.«
    Er nahm die Stellung des Herausforderers ein und schaute mir dabei unentwegt in die Augen. Ich hatte keine Bedenken, seinen Blick zu erwidern: Er war noch nie dem Kikutaschlaf erlegen und ich hatte noch nie versucht, ihm diesen Schlaf aufzudrängen. Ich gebrauchte auch nie absichtlich die Unsichtbarkeit oder das zweite Ich, obwohl ich manchmal in der Hitze des Gefechts spürte, wie mein Ebenbild sich von mir lösen wollte.
    Sein Stock fuhr wie ein Blitz durch die Luft. Jetzt dachte ich an gar nichts mehr außer an den Gegner vor mir und den Stoß seiner Stange, den Boden unter unseren Füßen und den Raum um uns, den wir fast wie bei einem Tanz füllten. Und noch zweimal gelangte ich an den gleichen Punkt, an dem ich

Weitere Kostenlose Bücher