Der Pfad im Schnee
Moment, in dem ich Rakus graues Fell und schwarze Mähne erkannte, drehte der Hengst den Kopf, sah mich und wieherte freudig.
Er war mein Geschenk für Kaede gewesen; er war fast alles, was ich nach dem Fall von Inuyama noch besaß. Konnte sie ihn verkauft oder verschenkt haben? Oder hatte er sie mir hierher gebracht?
Zwischen den Ställen und den Gästezimmern der Herberge lag ein kleiner Innenhof mit Kiefern und Steinlaternen. Ich betrat ihn. Jemand musste wach sein, ich hörte das Atmen hinter den Läden. Ich ging zur Veranda, ich wollte unbedingt wissen, ob sie es war, und zugleich war ich sicher, sie im nächsten Augenblick zu sehen.
Sie war noch schöner als in meiner Erinnerung. Ihre Krankheit hatte sie dünner und zerbrechlicher gemacht, aber wie wohlgeformt ihre Knochen, wie schlank ihr Nacken, ihre Handgelenke waren, sah man jetzt deutlich. Das Hämmern meines Herzens brachte die Welt rundum zum Schweigen. Dann begriff ich, dass wir ein paar Momente lang allein sein würden, bevor die Herberge erwachte; ich ging zu ihr und fiel vor ihr auf die Knie.
Nur zu bald hörte ich, wie die Frauen im Zimmer aufwachten. Ich machte mich unsichtbar und schlüpfte davon. Kaede hielt erschrocken den Atem an und mir wurde klar, dass ich ihr noch nichts von meinen Stammeskünsten erzählt hatte. Es gab so vieles, worüber wir reden mussten: Würden wir je Zeit genug dafür haben? Das Glockenspiel läutete, als ich darunter durchging. Mein Pferd schaute nach mir, sah mich aber nicht. Dann wurde ich wieder sichtbar. Ich lief bergauf und war so voller Energie und Freude, als hätte ich einen Zaubertrank eingenommen. Kaede war hier. Sie war nicht verheiratet. Sie würde mein sein.
Wie jeden Tag besuchte ich den Friedhof und kniete an Shigerus Grab nieder. Zu dieser frühen Stunde lag es verlassen da, das Licht war schwach unter den Zedern, deren Spitzen von der Sonne gestreift wurden. Auf der gegenüberliegenden Talseite hing der Nebel an den Hängen, sodass die Gipfel auf Schaum zu treiben schienen.
Der Wasserfall plätscherte unaufhörlich und fand sein Echo im leiseren Rieseln des Wassers, das durch Rinnen und Rohre in die Teiche und Zisternen des Gartens floss. Ich hörte die Mönche beim Gebet, das Ansteigen und Abfallen der Sutren, das plötzliche klare Läuten einer Glocke. Ich war froh, dass Shigeru an diesem friedlichen Ort ruhte. Ich sprach mit seinem Geist und bat, dass seine Stärke und Weisheit auf mich übertragen werde. Ich sagte ihm, was er zweifellos bereits wusste, dass ich seine letzten Bitten an mich erfüllen würde. Und dass ich zuerst Shirakawa Kaede heiraten würde.
Plötzlich gab es einen Stoß, die Erde bebte heftig. Ich war davon überzeugt, dass ich das Richtige tat, zugleich hatte ich ein Gefühl der Dringlichkeit. Unverzüglich mussten wir heiraten.
Der Klang des Wassers veränderte sich, ich schaute mich danach um. Im großen Teich zappelten und sprangen die Karpfen direkt unter der Wasseroberfläche, die zu einer funkelnden Matte aus Rot und Gold geworden war. Makoto fütterte die Fische, sein Gesicht war ruhig und heiter, während er sie beobachtete.
Rot und Gold füllten meine Augen, die Farben des Glücks, die Farben der Hochzeit.
Makoto bemerkte meinen Blick und rief: »Wo warst du? Du hast das Frühstück versäumt.«
»Ich esse später.« Ich stand auf und ging zu ihm. Ich konnte meine Erregung nicht für mich behalten. »Lady Shirakawa ist hier. Gehst du mit Kahei zu ihr und begleitest sie zum Gästehaus der Frauen?«
Er warf den Rest der Hirse ins Wasser. »Ich werde es Kahei sagen. Ich gehe lieber nicht zu ihr. Ich will sie nicht an das Leid erinnern, das ich ihr gebracht habe.«
»Vielleicht hast du Recht. Ja, sag es Kahei. Sie sollen sie vor Mittag herbringen.«
»Warum ist sie hier?« Makoto schaute mich von der Seite an.
»Sie macht eine Pilgerreise, um für ihre Gesundung zu danken. Aber jetzt, wo sie da ist, habe ich vor, sie zu heiraten.«
»Einfach so?« Er lachte freudlos.
»Warum nicht?«
»Meine Erfahrung mit Heiraten ist sehr beschränkt, aber ich glaube, bei großen Familien wie den Shirakawa oder, was das angeht, den Otori, ist eine Einwilligung nötig, die Lords des Clans müssen einverstanden sein.«
»Ich bin der Lord meines Clans und ich gebe meine Einwilligung«, sagte ich leichthin, ich fand, dass er überflüssige Probleme heraufbeschwor.
»Dein Fall ist ein wenig anders. Aber wem gehorcht Lady Shirakawa? Ihre Familie hat vielleicht andere Pläne
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