Der Pfad im Schnee
Loyalitäten. Die Unruhe, die mich folterte, trug ich nicht zur Schau. Ich lernte, der Welt nichts zu zeigen. Doch nachts richteten sich meine Gedanken auf Kaede und mein Begehren folgte. Ich sehnte mich nach ihr, fürchtete, sie sei mit einem anderen verheiratet und für mich verloren. Wenn ich nicht schlafen konnte, schlüpfte ich aus dem Zimmer, verließ den Tempel, erkundete den Bezirk ringsum und ging manchmal bis nach Yamagata. Die Stunden der Meditation, des Studiums und Trainings hatten allen meinen Fähigkeiten den letzten Schliff gegeben; ich fürchtete nicht, dass jemand mich entdecken könnte.
Makoto und ich trafen uns täglich, um zusammen zu lernen, doch nach einer wortlosen Übereinkunft berührten wir einander nicht. Unsere Freundschaft hatte sich auf eine andere Ebene verlagert und würde nach meinem Gefühl ein Leben lang anhalten. Ich schlief auch nicht mit irgendwelchen Frauen. Der Tempel war ihnen nicht zugänglich, aus Angst vor Mordanschlägen hielt ich mich von Bordellen fern und ich wollte nicht noch ein Kind zeugen. Oft dachte ich an Yuki. In einer mondlosen Nacht spät im zweiten Monat konnte ich nicht widerstehen, am Haus ihrer Eltern vorbeizugehen. Die Pflaumenblüten leuchteten weiß in der Dunkelheit, aber im Haus brannte kein Licht und am Tor war nur ein Wachtposten. Ich hatte gehört, dass Arais Männer das Haus im Herbst geplündert hatten. Jetzt wirkte es verlassen. Selbst der Geruch der gärenden Sojabohnen hatte sich verzogen.
Ich dachte an unser Kind. Ich war überzeugt, dass es ein Junge sein würde, den der Stamm dazu erzog, mich zu hassen, und der aller Wahrscheinlichkeit nach dazu bestimmt war, die Prophezeiung der Blinden zu erfüllen. Die Zukunft zu kennen bedeutete nicht, dass ich ihr entfliehen konnte: Das gehörte zur bitteren Traurigkeit des menschlichen Daseins.
Ich fragte mich, wo Yuki jetzt war - vielleicht in einem abgelegenen geheimen Dorf nördlich von Matsue -, und dachte oft an ihren Vater Kenji. Er war vermutlich nicht so weit entfernt in einem der Mutodörfer in den Bergen und wusste nicht, dass ich inzwischen das geheime Netz der Stammesverstecke kannte durch die Aufzeichnungen, die Shigeru hinterlassen hatte und die ich den Winter hindurch auswendig gelernt hatte. Mir war noch immer nicht klar, was ich mit diesem Wissen anfangen würde; ob ich es dazu gebrauchen sollte, von Arai Vergebung und Freundschaft zu kaufen, oder es selbst nutzen würde, um die geheime Organisation auszulöschen, die mich zum Tod verurteilt hatte.
Vor langer Zeit hatte Kenji geschworen, mich zu beschützen, so lange ich lebte. Wegen seiner Hinterhältigkeit nahm ich dieses Versprechen nicht ernst und seine Rolle beim Verrat an Shigeru hatte ich ihm ebenfalls nicht verziehen. Aber ich wusste auch, dass ich ohne ihn Shigeru nicht hätte rächen können, und dass er mir in jener Nacht zurück zum Schloss gefolgt war, konnte ich nicht vergessen. Wenn ich mir einen Helfer hätte auswählen können, wäre er es gewesen, aber ich glaubte nicht, dass er je gegen die Regeln des Stammes verstoßen würde. Beim nächsten Mal würden wir uns als Feinde gegenüberstehen und jeder würde versuchen, den anderen zu töten.
Einmal, als ich im Morgengrauen zurückkehrte, hörte ich das schwere Keuchen eines Tiers und überraschte einen Wolf auf dem Pfad. Er konnte mich riechen, aber nicht sehen. Ich war ihm so nahe, dass ich das helle rötliche Haar hinter seinen Ohren bemerkte, so nahe, dass ich seinen Atem roch. Er knurrte vor Angst, wich zurück, drehte sich um und schlüpfte ins Unterholz. Ich hörte, wie er stehen blieb und wieder witterte, seine Nase war so scharf wie meine Ohren. Unsere Sinneswelten überschnitten sich, meine wurde vom Hören beherrscht, seine vom Riechen. Ich fragte mich, wie es in seinem wilden und einsamen Reich sein mochte. Im Stamm war ich als der Hund bekannt, aber ich sah mich lieber als einen Wolf wie ihn, der nicht länger Eigentum von irgendjemandem war.
Dann kam der Morgen, an dem ich mein Pferd entdeckte, Raku. Es war spät im dritten Monat, als die Kirschblüten aufsprangen. Ich ging den steilen Pfad hinauf, der Himmel wurde heller und ich betrachtete die Berggipfel, die noch mit Schnee bedeckt waren und sich in der Sonne rosa färbten. Vor dem Gasthaus sah ich die fremden Pferde an ihren Stricken. Niemand schien auf zu sein, doch ich hörte, wie auf der anderen Seite des Hofs ein Laden aufgeschoben wurde. Mein Blick galt wie immer den Pferden und im selben
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