Der Pfad im Schnee
an.«
»Lord Shigeru und Lady Maruyama liebten einander jahrelang innig«, wagte ich zu sagen.
»Ja, nun, das muss irgendein Wahnsinn im Blut der Otori sein«, entgegnete er, aber sein Gesichtsausdruck war weicher und sein Blick wurde nachdenklich.
»Es stimmt«, sagte er schließlich. »Ihre Liebe hielt an. Und sie erleuchtete alle ihre Pläne und Hoffnungen. Wenn sie geheiratet und das Bündnis zwischen dem Mittleren Land und dem Westen zu Stande gebracht hätten, von dem sie träumten, wer weiß, was sie nicht alles erreicht hätten?« Er klopfte mir auf die Schulter. »Es ist, als hätten ihre Geister eine zweite Chance durch Sie und Lady Shirakawa heraufbeschworen. Und, ich kann es nicht leugnen, Maruyama zu Ihrem Stützpunkt zu machen, ist sehr vernünftig. Aus diesem Grund und ebenso um der Toten willen werde ich dieser Heirat zustimmen. Sie können mit den nötigen Vorbereitungen beginnen.«
»Ich war noch nie bei einer Hochzeit dieser Art«, gestand ich, nachdem ich mich dankbar bis zum Boden verneigt hatte. »Was muss getan werden?«
»Fragen Sie die Frau, die mit Lady Shirakawa gekommen ist, sie wird es wissen. Ich hoffe, ich bin noch nicht senil geworden«, setzte er hinzu, bevor er mich entließ.
Es war fast Zeit fürs Mittagessen. Ich ging mich waschen und umziehen. Sorgfältig kleidete ich mich an, ich wählte ein anderes der Seidengewänder mit dem Otoriwappen auf dem Rücken, die mir geschenkt worden waren, als ich nach meiner Wanderung durch den Schnee in Terayama angekommen war. Ich aß gedankenverloren, schmeckte kaum etwas und horchte die ganze Zeit auf Kaedes Ankunft.
Endlich hörte ich Kaheis Stimme vor dem Speisesaal. Ich rief ihn und er kam zu mir herein.
»Lady Shirakawa ist im Gästehaus«, sagte er. »Fünfzig weitere Männer sind aus Hagi gekommen. Wir werden sie im Dorf unterbringen. Gemba kümmert sich darum.«
»Ich werde sie heute Abend begrüßen.« Beide Neuigkeiten erfreuten mein Herz. Ich ließ Kahei beim Essen allein und ging zurück in mein Zimmer, wo ich mich vor den Schreibtisch kniete und die Rollen hervorholte, die ich auf Geheiß des Abtes lesen sollte. Ich dachte, ich würde vor Ungeduld sterben, bis ich Kaede wiedersah, doch allmählich nahm mich die Kriegskunst gefangen: die Berichte über gewonnene und verlorene Schlachten, Strategie und Taktik, die Rolle, die Himmel und Erde spielten. Der Abt hatte mir die Aufgabe gestellt, die Einnahme der Stadt Yamagata zu planen. Es war ein theoretisches Problem gewesen, mehr nicht; Yamagata wurde immer noch von Arai durch seinen einstweiligen Statthalter beherrscht, obwohl es Berichte gab, nach denen die Otori die Rückeroberung ihrer Stadt planten und an ihrer Südgrenze bei Tsuwano eine Armee bereitstellten. Matsuda hatte vorgehabt, sich bei Arai für mich einzusetzen und zwischen uns Frieden zu stiften, danach sollte ich Arais Gefolgsmann sein und mir zugleich mein Otorierbe sichern. Jetzt war mir allerdings völlig klar, dass ich durch die Hochzeit mit Kaede erneut Arais Feindschaft riskierte und deshalb sehr wohl gezwungen sein könnte, Yamagata sofort einzunehmen. Das gab meinem Studium der Strategie eine gewisse Bedeutung für die Realität.
Ich kannte die Stadt so gut; ich hatte jede Straße erkundet; ich war ins Schloss eingedrungen. Und ich kannte das Gelände ringsum, die Berge, Täler, Hügel und Flüsse. Meine Hauptschwierigkeit lag darin, dass so wenige Männer meinem Kommando unterstanden: höchstens eintausend. Yamagata war eine wohlhabende Stadt, doch der Winter war hart für alle gewesen. Konnte das Schloss einer langen Belagerung standhalten, wenn ich zu Beginn des Frühjahrs angriff? Würde Diplomatie eine Kapitulation erreichen, wo Gewalt es nicht schaffte? Welche Vorteile hatte ich gegenüber den Verteidigern?
Während ich über diesen Problemen grübelte, wanderten meine Gedanken zu dem Ausgestoßenen, Jo-An. Ich hatte gesagt, ich würde ihn im Frühjahr holen lassen, aber ich war mir immer noch nicht sicher, ob ich das wollte. Nie konnte ich seinen hungrigen, leidenschaftlichen Blick vergessen, den Blick des Bootsmanns und der anderen Ausgestoßenen. »Er ist jetzt Ihr Mann«, hatte Jo-An über den Bootsmann gesagt. »Wie wir alle.« Konnte ich Ausgestoßene in meine Armee aufnehmen oder die Bauern, die täglich zu Shigerus Grab kamen, beteten und Opfergaben darbrachten? Ich bezweifelte nicht, dass ich auf diese Männer zählen konnte, wenn ich sie einsetzte. Aber entsprach das den Gebräuchen der
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