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Der Pfad im Schnee

Der Pfad im Schnee

Titel: Der Pfad im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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es. Und noch dazu einen mit solchen Talenten!«
    Ich sagte nichts dazu. Sie schien eine harmlose alte Frau zu sein - aber Kenji hatte schließlich wie ein harmloser alter Mann gewirkt. In mir meldete sich ein schwaches Echo des Misstrauens von damals, als ich Kenji zum ersten Mal in Hagi auf der Straße gesehen hatte. Ich versuchte seine Frau unauffällig zu mustern und sie starrte mich unverhohlen an. Ich spürte, dass sie mich auf gewisse Art herausforderte, aber darauf wollte ich erst reagieren, wenn ich mehr über sie und ihre Fähigkeiten herausgefunden hatte.
    »Wer hat meinen Vater getötet?«, fragte ich stattdessen.
    »Das hat nie jemand herausbekommen. Es dauerte Jahre, bis wir sicher wussten, dass er tot war. Er hatte einen abgelegenen Ort gefunden, an dem er sich versteckte.«
    »War es jemand vom Stamm?«
    Das brachte sie zum Lachen, was mich wütend machte. »Kenji hat gesagt, dass du keinem traust. Das ist gut, aber mir kannst du trauen.«
    »So wie ihm«, murmelte ich.
    »Shigerus Plan hätte dich getötet«, sagte sie nachsichtig. »Es ist wichtig für die Kikuta, für den ganzen Stamm, dass du am Leben bleibst. Heutzutage findet man sehr selten einen solchen Reichtum an Talenten.«
    Ich brummte etwas und versuchte eine verborgene Bedeutung unter ihrer Schmeichelei zu entdecken. Sie goss Tee ein und ich trank ihn in einem Zug aus. Von der stickigen Luft im Zimmer hatte ich Kopfschmerzen.
    »Du bist angespannt«, sagte sie, nahm mir die Schale aus den Händen und stellte sie aufs Tablett. Dann schob sie das Tablett zur Seite und kam näher. Sie kniete sich hinter mich und fing an, mir Nacken und Schultern zu massieren. Ihre Finger waren kräftig, geschmeidig und feinfühlig zugleich. Sie bearbeitete meinen Rücken und dann den Kopf, nachdem sie gesagt hatte: »Schließ die Augen.« Das Gefühl war herrlich. Ich stöhnte fast laut vor Wohlbehagen. Ihre Hände schienen ein Eigenleben zu haben. Ich überließ ihnen meinen Kopf und mir war, als schwebte er weg vom Hals.
    Dann hörte ich, wie die Tür zugeschoben wurde. Ich schlug die Augen auf. Immer noch fühlte ich die Finger der Frau auf der Kopfhaut, doch ich war allein im Zimmer. Ein Schauder lief mir über den Rücken. Kenjis Frau mochte harmlos aussehen, aber vermutlich verfügte sie über ebenso große Kräfte wie ihr Mann oder ihre Tochter.
    Sie hatte auch mein Messer mitgenommen.

    Ich bekam den Namen Minoru, aber kaum jemand rief mich so. Wenn wir allein waren, nannte Yuki mich gelegentlich Takeo, wobei sie das Wort im Mund formte, als würde sie sich ein Geschenk machen. Akio sagte immer nur »du« und immer so, wie es gegenüber Untergeordneten üblich ist. Er war dazu berechtigt. Er war mir an Jahren, Ausbildung und Wissen überlegen und ich war angewiesen worden, ihm zu gehorchen. Doch in mir gärte es immer noch; mir war nicht klar gewesen, wie sehr ich mich daran gewöhnt hatte, respektvoll als Otorokrieger und Shigerus Erbe behandelt zu werden.
    Meine Ausbildung begann an diesem Nachmittag. Dass mir die Muskeln in den Händen so weh tun konnten, hatte ich nicht gewusst. Mein rechtes Handgelenk war noch schwach von meinem ersten Kampf mit Akio. Am Ende des Tages schmerzte es wieder. Wir begannen mit Übungen, um die Finger flink und geschmeidig zu machen. Selbst mit seiner verletzten Hand war Akio weitaus schneller und viel geschickter als ich. Wir saßen einander gegenüber und immer wieder klopfte er mir auf die Hände, bevor ich sie wegziehen konnte.
    Er war so flink; ich hielt es nicht für möglich, dass ich die Bewegung noch nicht einmal sehen konnte. Zuerst war das Klopfen nicht mehr als ein leichter Klaps, aber als der Nachmittag in den Abend überging und wir beide müde wurden und enttäuscht über meine Schwerfälligkeit waren, versetzte er mir harte Schläge.
    Yuki, die zu uns gekommen war, sagte leise: »Wenn du ihm die Hände verletzt, dauert es länger.«
    »Vielleicht sollte ich ihm den Kopf verletzen«, murmelte Akio, und beim nächsten Mal packte er meine Hände, bevor ich sie wegziehen konnte, mit der Rechten und schlug mir mit der Linken ins Gesicht. Es war ein richtiger Hieb, so stark, dass mir die Augen tränten.
    »Ohne ein Messer ist er nicht so kühn«, sagte Akio, ließ meine Hände los und brachte die eigenen wieder in Stellung.
    Yuki sagte nichts. In mir kochte der Zorn. Es kam mir unverschämt vor, dass er einen Lord der Otori schlug. Das enge Zimmer, der vorsätzliche Spott, Yukis Gleichgültigkeit, das alles

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