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Der Pfad im Schnee

Der Pfad im Schnee

Titel: Der Pfad im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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trug dazu bei, dass ich die Beherrschung verlor. Beim nächsten Mal machte Akio die gleiche Bewegung, jetzt hielt er meine Hände mit der Linken fest und holte mit der Rechten aus. Der Schlag war noch härter und schleuderte mir den Kopf zurück. Mir wurde schwarz vor Augen, dann rot. Ich spürte den Zorn ausbrechen wie damals bei Kenji und stürzte mich auf Akio.
    Es ist lange her, dass ich siebzehn war, dass die Wut mich packte und mich über die Grenzen der Selbstkontrolle hinausriss. Doch ich weiß noch, dass mir bei der Entladung zu Mute war, als ob mein tierisches Ich losgebunden worden wäre, und danach erinnere ich mich nur noch an das blinde Gefühl der Gleichgültigkeit darüber, ob ich lebte oder starb, der Weigerung, mich weiter zwingen oder drangsalieren zu lassen.
    Nach dem ersten Überraschungsmoment, als ich Akio schon die Hände um die Kehle gelegt hatte, bändigten mich die beiden mühelos. Yuki wiederholte ihren Trick, mir auf den Hals zu drücken, und als mir die Sinne schwanden, schlug sie mich fester, als ich für möglich gehalten hätte, in den Magen. Ich krümmte mich und würgte. Akio schlüpfte unter mir hervor und hielt mir die Arme auf dem Rücken fest.
    So dicht wie Verliebte saßen wir nebeneinander auf den Matten und keuchten schwer. Der ganze Vorfall hatte nicht länger als eine Minute gedauert. Ich konnte nicht glauben, dass Yuki mich so fest geschlagen hatte. Ich hatte gedacht, sie stünde auf meiner Seite. Mit Groll im Herzen starrte ich sie an.
    »Das musst du beherrschen lernen«, sagte sie ruhig.
    Akio ließ meine Arme los und kniete sich wachsam hin. »Lass uns wieder anfangen.«
    »Schlag mich nicht ins Gesicht«, sagte ich.
    »Yuki hat Recht, es ist besser, dir nicht die Hände zu verletzen«, antwortete er. »Du musst eben schneller sein.«
    Ich schwor mir, ihn nicht wieder zuschlagen zu lassen. Das nächste Mal hatte ich zwar keine Möglichkeit, ihm auf die Hände zu klopfen, doch ich zog Kopf und Hände weg, bevor er mich berühren konnte. Ich beobachtete ihn und fing an, die geringste Andeutung einer Bewegung zu ahnen. Schließlich gelang es mir, die Oberfläche seiner Knöchel zu streifen. Er sagte nichts, nickte, als wäre er befriedigt, wenn auch nur beinahe, und wir gingen dazu über, mit Bällen zu jonglieren.
    So vergingen die Stunden: Der Ball flog von einer Handfläche in die andere, von der Handfläche zur Matte zur Handfläche. Am Ende des zweiten Tags konnte ich auf traditionelle Weise mit drei Bällen jonglieren, am Ende des dritten mit vier. Akio schaffte es zuweilen immer noch, mich zu schlagen, wenn ich nicht aufpasste, doch meistens entging ich dem mit einem kunstvollen Tanz der Bälle und Hände.
    Am Ende des vierten Tags sah ich Bälle hinter den geschlossenen Lidern und war unsäglich gelangweilt und nervös. Manche Menschen und vermutlich auch Akio arbeiten unaufhörlich an solchen Fertigkeiten, weil sie besessen sind von ihnen und dem Wunsch, sie zu beherrschen. Ich erkannte bald, dass ich nicht zu diesen Leuten gehörte. Im Jonglieren sah ich keinen Sinn. Es interessierte mich nicht. Ich lernte es auf die schwierigste Weise und aus dem schlechtesten Grund - weil man mich schlagen würde, wenn ich versagte. Ich fügte mich Aldos harten Unterweisungen, weil ich musste, aber ich hasste sie und hasste ihn. Noch zweimal führten seine Methoden zum gleichen Wutausbruch, aber genau wie ich lernte, seine Handlungen vorauszusehen, erkannten er und Yuki die Anzeichen und konnten mich bändigen, bevor jemand verletzt wurde.
    Sobald in dieser vierten Nacht das Haus ruhig war und alle schliefen, beschloss ich, auf Erkundung zu gehen. Ich langweilte mich, ich konnte nicht schlafen, ich sehnte mich nach frischer Luft, vor allem aber wollte ich sehen, ob ich es fertig brachte zu entkommen. Wenn Gehorsam gegenüber dem Stamm sinnvoll sein sollte, musste ich herausfinden, ob ich ungehorsam sein konnte. Erzwungener Gehorsam kam mir so töricht vor wie Jonglieren. Ebenso gut könnten sie mich Tag und Nacht festbinden wie einen Hund und mich dazu abrichten, auf Befehl zu bellen und zu beißen.
    Ich kannte den Grundriss des Hauses. Ich hatte ihn aufgezeichnet, als ich nichts anderes zu tun hatte als zu horchen. Ich wusste, wo jeder nachts schlief. Yuki und ihre Mutter nächtigten in einem Zimmer im hinteren Teil des Gebäudes mit zwei anderen Frauen, die ich nicht gesehen, aber gehört hatte. Eine bediente im Laden, sie scherzte laut mit den Kunden in der hiesigen

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