Der Pfad im Schnee
seufzte erleichtert.
»Ja, sie hat einen Arm voll Kräuter und Pilze mitgebracht, die sie unbedingt kochen will.«
Ai errötete. »Sie ist halb verwildert«, fing sie an zu erklären.
»Ich möchte sie sehen«, sagte Kaede. »Dann musst du mich zu Vater bringen.«
Ai ging hinaus, Kaede hörte ein kurzes Streitgespräch aus der Küche und gleich darauf kam Ai mit einem etwa neunjährigen Mädchen zurück.
»Das ist Kaede, unsere ältere Schwester. Sie hat unser Haus verlassen, als du ein Säugling warst«, sagte Ai zu Hana und drängte: »Begrüße deine ältere Schwester, wie es sich gehört.«
»Willkommen daheim«, flüsterte Hana, ließ sich auf die Knie fallen und verneigte sich vor Kaede, die sich ebenfalls hinkniete, Hanas Hände nahm und sie hochhob. Kaede schaute Hana ins Gesicht.
»Ich war jünger als du jetzt, als ich hier wegging.« Sie betrachtete die schönen Augen und die ebenmäßige Knochenstruktur unter den kindlichen Rundungen.
»Sie ist wie Sie, Lady«, sagte Shizuka.
»Ich hoffe, sie wird glücklicher sein«, entgegnete Kaede, zog Hana an sich und umarmte sie. Der leichte Kinderkörper fing an zu zittern und Kaede merkte, dass Hana weinte.
»Mutter! Ich will zu Mutter!«
Auch Kaedes Augen füllten sich mit Tränen.
»Pst, Hana, nicht weinen, kleine Schwester.« Ai versuchte sie zu beruhigen. »Es tut mir Leid«, sagte sie zu Kaede. »Sie trauert immer noch. Man hat ihr kein Benehmen beigebracht.«
Nun, sie wird es lernen, dachte Kaede, wie ich es musste. Sie wird lernen, ihre Gefühle nicht zu zeigen, zu akzeptieren, dass das Leben aus Leid und Verlust besteht, und heimlich zu weinen, wenn sie überhaupt noch weint.
»Komm.« Shizuka nahm Hana bei der Hand. »Du musst mir zeigen, wie man die Pilze kocht. Die von hier kenne ich nicht.«
Über dem Kopf des Kindes begegnete ihr Blick dem von Kaede und ihr Lächeln war warm und fröhlich.
»Deine Dienerin ist wunderbar«, sagte Ai, als die beiden gegangen waren. »Wie lange ist sie schon bei dir?«
»Seit ein paar Monaten; kurz bevor ich Schloss Noguchi verließ, kam sie zu mir.« Die beiden Schwestern knieten weiter auf dem Boden, sie wussten nicht, was sie zueinander sagen sollten. Der Regen hatte sich verstärkt, wie ein Vorhang aus Stahlpfeilen fiel er vom Dachgesims. Es war fast dunkel. Kaede dachte, ich kann Ai nicht erzählen, dass Lord Arai mir Shizuka geschickt hat, dass sie mit der Verschwörung zum Sturz von Iida zu tun hat oder dass Shizuka dem Stamm angehört. Ich kann ihr gar nichts erzählen. Sie ist so jung, sie hat Shirakawa nie verlassen, sie weiß nichts von der Welt.
»Ich glaube, wir sollten zu Vater gehen«, sagte sie.
Doch in diesem Augenblick hörte sie seine Stimme aus einem entlegenen Teil des Hauses. »Ai! Ayame!« Seine Schritte näherten sich. Leise klagte er: »Ah, sie sind alle weggegangen und haben mich verlassen. Diese wertlosen Frauen!«
Er kam herein und blieb abrupt stehen, als er Kaede sah.
»Wer ist da? Haben wir Besucher? Wer ist beim Regen um diese späte Stunde gekommen?«
Ai stand auf und ging zu ihm. »Es ist Kaede, deine älteste Tochter. Sie ist zurückgekehrt. Sie ist in Sicherheit.«
»Kaede?« Er machte einen Schritt auf sie zu. Sie stand nicht auf, sondern blieb, wo sie war, und verneigte sich so tief, dass ihre Stirn den Boden berührte.
Ai half ihrem Vater, als er sich vor Kaede kniete. »Setz dich auf, setz dich auf«, sagte er ungeduldig. »Lass uns das Schlimmste an uns sehen.«
»Vater?«, fragte sie, während sie den Kopf hob.
»Ich bin ein Mann der Schande«, sagte er. »Ich hätte sterben sollen. Ich habe es nicht getan. Jetzt bin ich hohl, nur halb lebendig. Schau mich an, Tochter.«
Es stimmte, schreckliche Veränderungen waren mit ihm vorgegangen. Er war immer so beherrscht und würdevoll gewesen. Jetzt wirkte er wie eine Hülse seines früheren Ichs. Eine halb verheilte Wunde zog sich von der Schläfe zum linken Ohr; das Haar war rund um die Wunde wegrasiert worden. Er war barfuß, sein Gewand voller Flecken und sein Kinn mit dunklen Stoppeln bedeckt.
»Was ist mit dir geschehen?«, fragte Kaede und versuchte den Zorn in ihrer Stimme zu unterdrücken. Sie war gekommen, um eine Zuflucht zu finden, sie suchte das verlorene Zuhause ihrer Kindheit, um das sie acht Jahre getrauert hatte, und sah es jetzt fast zerstört.
Ihr Vater machte eine müde Geste. »Was bedeutet das schon? Alles ist verloren, vernichtet. Deine Rückkehr zerstört mich endgültig. Was ist aus
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