Der Pfad im Schnee
und baten ihn, uns nicht zu verlassen. Ich nahm ihm die Waffen weg.« Sie wandte Kaede ihr tränenüberströmtes Gesicht zu. »Es ist allein mein Fehler. Ich hätte mehr Mut haben sollen. Ich hätte ihm beim Sterben helfen und dann Hana und mich töten sollen, wie es sich für die Tochter eines Kriegers gehört. Aber ich konnte nicht. Ich konnte ihr nicht das Leben nehmen und ich konnte sie nicht allein lassen. Deshalb leben wir in Schande und das treibt Vater in den Wahnsinn.«
Kaede dachte: Ich hätte mich auch töten sollen, sobald ich hörte, dass Lord Shigeru verraten worden war. Aber ich habe es nicht getan. Stattdessen habe ich Iida getötet. Sie strich Ai über die Wange und spürte die Tränen.
»Vergib mir«, flüsterte Ai. »Ich bin so schwach gewesen.«
»Nein«, entgegnete Kaede. »Warum hättest du sterben sollen?« Ihre Schwester war erst dreizehn, sie hatte kein Verbrechen begangen. »Warum sollte überhaupt jemand von uns den Tod wählen? Wir werden stattdessen leben. Wo ist Hana jetzt?«
»Ich habe sie mit den Frauen in den Wald geschickt.«
Kaede hatte zuvor selten Mitleid empfunden. Jetzt erwachte es in ihr so schmerzhaft wie Leid. Sie erinnerte sich, wie die Weiße Göttin zu ihr gekommen war. Die große Gnädige hatte sie getröstet, hatte versprochen, dass Takeo zu ihr zurückkehren werde. Doch mit dem Versprechen der Göttin waren die Forderungen nach Mitgefühl gekommen, dass Kaede leben sollte, um sich ihrer Schwestern, ihres Volkes, ihres ungeborenen Kindes anzunehmen. Von draußen hörte sie, wie Kondo Befehle gab und die Männer mit Rufen reagierten. Ein Pferd wieherte und ein anderes antwortete. Der Regen hatte zugenommen, er trommelte ein Klangmuster, das ihr vertraut vorkam. Sie seufzte.
»Ich muss zu Vater«, sagte sie. »Dann müssen wir den Männern etwas zu essen besorgen. Wird jemand von den Dorfbewohnern helfen?«
»Bevor Mutter starb, schickten die Bauern eine Abordnung. Sie beschwerten sich über die Reissteuer, den Zustand der Gräben und Felder, den Verlust der Ernte. Vater war wütend. Er weigerte sich, auch nur mit ihnen zu reden. Ayame überredete sie, uns in Ruhe zu lassen, weil Mutter krank war. Seit damals herrscht hier nur Verwirrung. Die Dorfbewohner fürchten sich vor Vater - sie sagen, er sei verflucht.«
»Was ist mit den Nachbarn?«
»Da wäre Lord Fujiwara. Er pflegte Vater gelegentlich zu besuchen.«
»Ich erinnere mich nicht an ihn. Was ist das für ein Mann?«
»Er ist seltsam. Ziemlich elegant und kalt. Er ist von sehr hoher Abstammung, heißt es, und wohnte früher in der Hauptstadt.«
»Inuyama?«
»Nein, in der richtigen Hauptstadt, wo der Kaiser lebt.«
»Er ist also ein Edelmann?«
»Wahrscheinlich. Er spricht anders als die Leute von hier. Ich kann ihn kaum verstehen. Er scheint sehr gelehrt zu sein. Vater hat gern mit ihm über Geschichte geredet und über die Klassiker.«
»Nun, wenn er Vater je wieder besucht, bitte ich ihn vielleicht um Rat.« Kaede schwieg einen Augenblick. Sie kämpfte gegen ihre Erschöpfung. Ihre Glieder schmerzten und ihr Bauch fühlte sich schwer an. Am liebsten hätte sie sich hingelegt und geschlafen. Und tief im Inneren fühlte sie sich schuldig, weil sie nicht mehr trauerte. Zwar hatte sie Schmerz über den Tod ihrer Mutter und die Demütigung ihres Vaters empfunden; doch in ihrer Seele war weder Raum noch Kraft für weiteres Leid.
Sie schaute sich im Zimmer um. Selbst in der Dämmerung sah sie, dass die Matten alt waren, die Wände voller Wasserflecken, die Wandschirme zerrissen. Ai folgte ihrem Blick. »Ich schäme mich«, flüsterte sie. »Es gab so viel zu tun. Und so vieles, das ich nicht kann.«
»Beinah erinnere ich mich, wie es gewesen ist«, sagte Kaede. »Es hatte einen gewissen Glanz.«
»Das hat Mutter gemacht.« Ai unterdrückte ein Schluchzen.
»Wir machen es wieder so«, versprach Kaede.
Von der Küche her hörten sie plötzlich jemanden singen. Kaede erkannte Shizukas Stimme und das Lied, das sie bei ihrer ersten Begegnung gehört hatte, die Liebesballade über das Dorf und die Kiefer.
Woher nimmt sie den Mut, jetzt zu singen, dachte sie, als Shizuka eilig mit einer Lampe in jeder Hand hereinkam.
»Die habe ich in der Küche gefunden«, sagte sie, »und zum Glück brannte das Feuer noch. Reis und Gerste sind aufgestellt. Kondo hat Männer ins Dorf geschickt, sie sollen kaufen, was sie können. Und die Dienerinnen sind zurückgekommen.«
»Unsere Schwester wird bei ihnen sein.« Ai
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