Der Pfad im Schnee
ein Kind?« Er starrte sie an, als wäre sie eine Viper, die jeden Augenblick beißen könnte.
»Ja, es gibt ein Kind.«
»Wer ist der Vater? Oder weißt du das nicht? War es einer von vielen?«
»Das macht jetzt keinen Unterschied«, entgegnete sie. »Das Kind wird mit mir sterben.«
Sie dachte: Stoß das Messer seitlich hinein und zieh es dann nach oben. Aber sie spürte, wie das Kind mit winzigen Händen ihre Muskeln umklammerte und sie hinderte.
»Ja, ja, du musst dir das Leben nehmen.« Er hob die Stimme, jetzt klang sie schrill vor Energie. »Deine Schwestern müssen sich auch töten. Das ist mein letzter Befehl an euch. So wird die Familie Shirakawa verschwinden, nicht vorzeitig. Und ich werde nicht auf Shoji warten. Ich muss es selbst tun. Es wird meine letzte Ehrenhandlung sein.«
Er lockerte seine Schärpe, öffnete das Gewand und schob die Unterkleidung zur Seite, um sein Fleisch zu entblößen. »Wende dich nicht ab«, sagte er zu Kaede. »Du musst zuschauen. Du bist es, die mich dazu getrieben hat.« Er legte die Klingenspitze an die schlaffe, faltige Haut und holte tief Atem.
Kaede konnte nicht glauben, dass es geschah. Sie sah, wie sich seine Finger um den Griff spannten, sah, wie sich sein Gesicht verzerrte. Er stieß einen rauen Schrei aus und der Dolch fiel ihm aus der Hand. Doch sie sah kein Blut, keine Wunde. Mehrere heisere Schreie folgten, dann wurden sie von gequältem Schluchzen abgelöst.
»Ich kann es nicht«, klagte er. »Ich habe keinen Mut mehr. Du hast mir die Kraft geraubt, du unnatürliche Frau. Du hast mir meine Ehre und meine Männlichkeit genommen. Du bist nicht meine Tochter, du bist ein Dämon! Du bringst allen Männern den Tod. Du bist verflucht!« Er packte sie und zerrte an ihrer Kleidung. »Ich will dich sehen«, schrie er. »Lass mich sehen, was andere Männer begehren! Bring mir den Tod, wie du ihn anderen gebracht hast.«
»Nein«, schrie sie, wehrte sich gegen seine Hände und versuchte ihn wegzustoßen. »Vater, nein!«
»Du nennst mich Vater? Ich bin nicht dein Vater. Meine wahren Kinder sind die Söhne, die ich nie hatte; die Söhne, deren Platz du und deine verfluchten Schwestern eingenommen haben. Deine dämonischen Kräfte müssen sie im Bauch deiner Mutter getötet haben!« Sein Wahnsinn verlieh ihm Kraft. Sie spürte, wie ihr das Gewand von den Schultern gerissen wurde, fühlte seine Hände auf ihrer Haut. Sie konnte das Messer nicht gebrauchen; sie konnte ihm nicht entfliehen. Während sie sich gegen seinen Griff wehrte, rutschte ihr Gewand bis zur Taille und entblößte sie. Ihr Haar löste sich und fiel um die nackten Schultern.
»Du bist schön«, brüllte er. »Ich gebe es zu. Ich habe dich begehrt. Als ich dich unterrichtete, habe ich nach dir gegiert. Es war meine Strafe für das Vergehen gegen die Natur. Ich bin von dir völlig verdorben worden. Jetzt bring mir den Tod!«
»Lass mich gehen, Vater«, rief sie, während sie versuchte ruhig zu bleiben und hoffte, vernünftig mit ihm reden zu können. »Du bist außer dir. Wenn wir sterben müssen, lass es uns mit Würde tun.« Doch alle Worte schienen schwach und bedeutungslos angesichts seines Wahns.
Seine Augen waren nass, seine Lippen zitterten. Er packte ihr Messer und warf es durch den Raum, nahm ihre beiden Handgelenke in die Linke und zog sie zu sich. Mit der Rechten griff er unter ihr Haar, schob es zur Seite, beugte sich über sie und drückte die Lippen auf ihren Nacken.
Entsetzen und Ekel überwältigten sie, dann kam die Wut. Sie war darauf vorbereitet gewesen zu sterben, im Einklang mit dem strengen Ehrenkodex ihrer Klasse, um die Familienehre zu retten. Doch ihr Vater, der sie so unnachgiebig in diesem Kodex unterrichtet hatte, der ihr beharrlich die Überlegenheit seines Geschlechts beibrachte, hatte sich dem Wahnsinn ergeben und enthüllte, was unter den strengen Verhaltensregeln der Kriegerklasse lag: die Lüsternheit und Selbstsucht der Männer. Die Wut belebte die Kraft, von der Kaede wusste, dass sie in ihr lag, und sie erinnerte sich, wie sie im Eis geschlafen hatte. Sie rief die Weiße Göttin an. Hilf mir!
Sie hörte ihre eigene Stimme - »Hilf mir! Hilf mir!« - und noch während sie schrie, lockerte sich der Griff ihres Vaters. Er ist zur Vernunft gekommen, sagte sie sich, als sie ihn wegstieß. Sie rappelte sich auf, zog ihr Gewand um sich, band die Schärpe fest und stolperte fast ohne zu überlegen in die hinterste Ecke des Zimmers. Sie schluchzte vor Schock und
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