Der Pfad im Schnee
gemacht, sich über ihre Stellung und so weit wie möglich über ihren Charakter zu informieren.
Shoji war einer der ersten Ankömmlinge gewesen, er hatte sich vor der Leiche ihres Vaters zu Boden geworfen. Sein Gesicht zeigte immer noch Tränenspuren. Jetzt stand er rechts neben Kaede, Kondo links. Sie bemerkte, wie respektvoll Kondo mit dem Älteren umging, und wusste, dass diese Ehrerbietung nur vorgetäuscht war, wie fast alles, was er tat. Aber er hat meinen Vater für mich getötet, sagte sie sich. Er ist jetzt an mich gebunden. Doch welcher Preis wird dafür verlangt werden?
Die Männer knieten mit gesenkten Köpfen vor ihr; als sie sprach, setzten sie sich auf die Fersen zurück.
»Lord Shirakawa hat sich das Leben genommen«, sagte sie. »Es war seine Entscheidung, und wie sehr ich auch leide, ich muss sie respektieren und in Ehren halten. Mein Vater wollte, dass ich ihn beerbe. Mit diesem Ziel im Sinn hat er begonnen mich zu unterrichten, als wäre ich sein Sohn. Ich beabsichtige seine Wünsche zu erfüllen.« Sie hielt einen Moment inne und hörte in Gedanken seine letzten, so ganz anderen Worte, die er an sie gerichtet hatte. Ich bin von dir völlig verdorben worden. Jetzt bring mir den Tod. Sie wurde nicht schwach, sie schien vielmehr für die Männer vor ihr eine bezwingende Kraft auszustrahlen, die ihre Augen leuchten ließ und ihre Stimme unwiderstehlich machte. »Ich fordere die Gefolgsleute meines Vaters auf, mir Treue zu schwören, wie sie meinem Vater die Treue schworen. Da Lord Arai und ich verbündet sind, erwarte ich von denen unter euch, die ihm dienen, dass ihr weiterhin mir dient. Dafür biete ich euch Schutz und Beförderung. Ich beabsichtige, Shirakawa wieder in Stand zu setzen und im nächsten Jahr die Ländereien in Maruyama in Besitz zu nehmen, die mir hinterlassen worden sind. Mein Vater wird morgen beerdigt.«
Shoji war der Erste, der sich vor sie kniete. Kondo folgte, obwohl sie wieder etwas an ihm entdeckte, das sie unruhig machte. Er spielt Theater, dachte sie. Loyalität bedeutet ihm nichts. Er ist vom Stamm. Welche Pläne haben sie für mich, von denen ich nichts weiß? Kann ich ihnen trauen? Was mache ich, wenn ich feststelle, dass ich Shizuka nicht trauen kann?
Sie zitterte innerlich, obwohl keiner der Männer, die sich vor ihr aufstellten, das erraten hätte. Während sie die Loyalitätsschwüre entgegennahm, achtete sie auf jeden, merkte sich seine Eigenarten, Kleidung und Waffen. Die meisten waren schlecht ausgestattet, die Schnüre an ihren Rüstungen waren zerrissen oder ausgefranst, die Helme zerbeult und gesprungen, doch alle hatten Bogen und Schwerter, und Kaede wusste, dass die meisten Pferde besaßen.
Alle knieten sich nieder bis auf zwei. Einer, ein Riese von einem Mann, Hirogawa, rief mit lauter Stimme: »Allen Respekt vor Ihnen, Lady, aber ich habe noch nie einer Frau gedient und bin zu alt, um jetzt damit anzufangen.« Er deutete eine Verbeugung an und stolzierte so herausfordernd zum Tor, dass es sie wütend machte. Nakao, ein kleinerer Mann, folgte ihm wortlos, er verbeugte sich noch nicht einmal.
Kondo sah Kaede an. »Lady Otori?«
»Töte sie.« Kaede wusste, dass sie grausam sein musste und dass sie jetzt damit anzufangen hatte.
Kondo bewegte sich schneller, als sie es für möglich gehalten hatte, er erschlug Nakao, bevor der Mann merkte, was geschah. Hirogawa drehte sich unter dem Tor um und zog sein Schwert.
»Du hast deinen Treueschwur gebrochen und musst sterben«, rief Kondo ihm zu.
Der große Mann lachte. »Du bist noch nicht einmal einer von den Shirakawa. Wer hört schon auf dich?« Er hielt das Schwert zum Schlag bereit in beiden Händen. Kondo machte einen schnellen Schritt vor; als der Hieb kam, parierte er ihn mit dem eigenen Schwert, schlug die Klinge mit unerwarteter Kraft zurück, schwang die eigene Waffe wie eine Axt und stieß sie Hirogawa in den ungeschützten Bauch. Jetzt glich das Schwert mehr einer Rasierklinge als einer Axt, es glitt durch das Fleisch. Während Hirogawa vornüber zusammenbrach, wich Kondo nach rechts aus und trat dann hinter ihn. Er fuhr herum und ließ sein Schwert herabsausen, wobei er den Rücken des Mannes von der Schulter bis zur Hüfte spaltete.
Ohne einen Blick auf die sterbenden Männer wandte er sich den anderen zu. »Ich diene Lady Otori Kaede, der Erbin von Shirakawa und Maruyama. Ist hier noch jemand, der ihr nicht so treu dienen wird wie ich?«
Niemand regte sich. Kaede glaubte in Shojis
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