Der Pfad im Schnee
auf ihn und wollte ihn durch meine Willenskraft dazu bringen, mich anzuschauen, damit ich ihn zum Schweigen bringen, ihn einschläfern konnte, doch nach einem kurzen, verächtlichen Blick auf mich starrte er wieder zu Boden.
»Nun, das wird sich so oder so erweisen«, entgegnete Kotaro. »Ich glaube, diese Aufgabe wird deine Loyalität bis zum Äußersten auf die Probe stellen. Wenn dieser Ichiro von der Existenz und dem Inhalt der Aufzeichnungen weiß, muss er natürlich beseitigt werden.«
Ich verneigte mich wortlos und fragte mich, ob sich mein Herz so verhärtet hatte, dass ich Ichiro, den alten Mann, der Shigerus Lehrer und dann meiner gewesen war, töten könnte: Oft genug hatte ich geglaubt, Mordgelüste zu haben, wenn er mich bestrafte und mich zum Lernen zwang, doch er war einer der Otori, einer aus Shigerus Haus. Ich war sowohl durch Pflicht und Loyalität wie durch meinen eigenen widerwilligen Respekt und, wie ich jetzt erkannte, durch Zuneigung an ihn gebunden.
Zugleich erkundete ich den Zorn des Meisters, seinen Geschmack hatte ich im Mund. Er war von gleicher Art wie Aldos mehr oder weniger anhaltende Wut auf mich, als würden sie mich beide hassen und fürchten. Kenjis Frau hatte gesagt: Die Kikuta freuten sich, als sie entdeckten, dass Isamu einen Sohn hinterlassen hatte. Warum waren sie so wütend auf mich, wenn sie sich so freuten? Aber hatte sie nicht auch gesagt, wir alle freuten uns? Und dann hatte Yuki mir von den früheren Gefühlen ihrer Mutter für Shintaro erzählt. Konnte sie sich wirklich über seinen Tod gefreut haben?
In diesem Moment war sie mir wie eine geschwätzige alte Frau vorgekommen und ich hatte ihre Worte für bare Münze genommen. Doch gleich darauf hatte sie mir einen kurzen Einblick in ihre Fähigkeiten erlaubt. Sie hatte mir geschmeichelt, meine Eitelkeit genauso liebkost wie meine Schläfen mit ihren geheimnisvollen Händen. Die Reaktion der Kikuta auf mein plötzliches Erscheinen war dunkler und vielschichtiger, als sie mich glauben ließen: Vielleicht hatten sie sich über meine Talente gefreut, doch zugleich hatte ich etwas an mir, das sie erschreckte, und ich verstand immer noch nicht, was es war.
Der Zorn, der mich zum Gehorsam zwingen sollte, machte mich stattdessen starrköpfiger, er feuerte sogar diesen Starrsinn an und gab mir Energie. Ich spürte, wie die Kraft zusammengerollt in mir lag, während ich über das Schicksal nachdachte, das mich zurück nach Hagi schickte.
»Wir haben eine gefährliche Zeit vor uns«, sagte der Meister und musterte mich, als könnte er meine Gedanken lesen. »Das Mutohaus in Yamagata wurde durchsucht und geplündert. Jemand vermutete, du seist dort gewesen. Doch Arai ist jetzt nach Inuyama zurückgekehrt und Hagi liegt weit von dort entfernt. Es bedeutet für dich ein Risiko, dort hinzugehen, doch das Risiko, dass die Aufzeichnungen einem anderen in die Hände fallen, ist größer.«
»Und wenn sie nicht in Lord Shigerus Haus sind? Sie könnten irgendwo versteckt sein.«
»Ichiro wird das vermutlich wissen. Frage ihn und bringe sie zurück von dort, wo sie sich befinden.«
»Soll ich sofort aufbrechen?«
»Je früher, umso besser.«
»Als Schauspieler?«
»Schauspieler reisen nicht um diese Jahreszeit«, sagte Akio verächtlich. »Außerdem gehen wir allein.«
Ich hatte in einem stillen Gebet darum gefleht, dass er nicht mitkommen würde. Der Meister sagte: »Akio wird dich begleiten. Sein Großvater - dein Großvater - ist gestorben und ihr geht zum Gedenkgottesdienst nach Hagi.«
»Ich würde lieber nicht mit Akio reisen«, sagte ich.
Akio schnappte hörbar nach Luft. Kotaro sagte: »Es geht nicht um deine Vorlieben. Nur um deinen Gehorsam.«
Ich spürte, wie der Starrsinn Funken schlug, und schaute ihn direkt an. Er sah mir in die Augen wie schon einmal. Damals hatte er mich sofort eingeschläfert. Doch diesmal konnte ich seinen Blick aushalten, ohne nachzugeben. In seinen Augen war etwas, das ihn vor mir zurückweichen ließ. Ich spürte diesem Blick nach und jäh kam mir der Verdacht in den Sinn.
Das ist der Mann, der meinen Vater getötet hat.
Einen Augenblick lang war ich entsetzt über das, was ich tat, dann wurde mein Blick fest und beherrschend. Ich zeigte die Zähne, obwohl ich keineswegs lächelte. Der Meister sah erstaunt aus, seine Sicht schien sich zu trüben. Dann war Akio auf den Beinen und schlug mir so fest ins Gesicht, dass ich fast zu Boden stürzte.
»Wie kannst du es wagen, dem Meister das
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