Der Pfad im Schnee
»Er war viele Jahre lang mit dem Mutomeister befreundet gewesen. Das ist alles, was ich von seinen Beziehungen zum Stamm weiß.«
»Mehr hat er dir nie darüber erzählt?«
»Nein.« Ich log. In Wahrheit hatte er mir mehr darüber erzählt, in jener Nacht, als wir in Tsuwano miteinander gesprochen hatten - dass er es zu seiner Angelegenheit gemacht hatte, alles über den Stamm zu erfahren, und dass er möglicherweise mehr über ihn wusste als irgendein anderer Außenstehender. Ich hatte dieses Wissen nie an Kenji weitergegeben, und ich sah keinen Grund, es jetzt Kotaro anzuvertrauen. Shigeru war tot, und ich war nun an den Stamm gebunden, aber seine Geheimnisse würde ich nicht verraten.
Ich versuchte Stimme und Gesicht nichts anmerken zu lassen, als ich sagte: »Yuki hat mich das Gleiche gefragt. Wieso ist das jetzt wichtig?«
»Wir dachten, wir würden Shigeru kennen, über sein Leben Bescheid wissen«, sagte Kotaro. »Aber er überrascht uns immer wieder, selbst nach seinem Tod. Er hat manches verheimlicht, sogar vor Kenji - zum Beispiel die Affäre mit Maruyama Naomi. Was hat er sonst noch für sich behalten?«
Ich zuckte leicht die Achseln. Ich dachte an Shigeru mit dem Spitznamen »der Bauer«, mit seinem offenherzigen Lächeln, seiner scheinbaren Freimütigkeit und Schlichtheit. Jeder hatte ihn falsch beurteilt, besonders der Stamm. Er war so viel mehr gewesen, als sie alle angenommen hatten.
»Ist es möglich, dass er aufzeichnete, was er über den Stamm wusste, und diese Notizen aufbewahrte?«
»Er hat viele Notizen über alles Mögliche aufbewahrt«, sagte ich, es klang verwirrt. »Die Jahreszeiten, seine landwirtschaftlichen Experimente, das Land und die Ernten, seine Gefolgsleute. Ichiro, sein ehemaliger Lehrer, half ihm dabei, aber vieles schrieb er selbst.«
Ich sah ihn vor mir, wie er spät in der Nacht schrieb, während die Lampe flackerte und die Kälte in die Räume drang; sein Gesicht war wach und intelligent, ganz anders als mit dem üblichen nichts sagenden Ausdruck.
»Er machte Reisen, warst du dabei?«
»Nein, abgesehen von unserer Flucht aus Mino.«
»Wie oft ist er verreist?«
»Das weiß ich nicht genau; während ich in Hagi war, verließ er nicht die Stadt.«
Kotaro seufzte. Stille kroch in den Raum. Ich konnte die anderen kaum atmen hören. Von draußen kamen die mittäglichen Geräusche aus Laden und Haus, das Klicken des Abakus, die Stimmen der Kunden, das Geschrei der Straßenhändler. Der Wind nahm zu, er pfiff unter den Simsen und rüttelte an den Fensterläden. In seinem Atem lag schon die Andeutung von Schnee.
Schließlich sagte der Meister: »Es ist höchst wahrscheinlich, dass er Notizen aufbewahrte. In diesem Fall müssen sie gefunden werden. Sollten sie Arai zu diesem Zeitpunkt in die Hände fallen, wäre das eine Katastrophe. Du wirst nach Hagi gehen müssen. Stelle fest, ob die Aufzeichnungen existieren, wenn ja, bringe sie hierher.«
Ich konnte es kaum fassen. Ich hatte geglaubt, ich würde nie mehr nach Hagi kommen. Jetzt wurde ich in das Haus geschickt, das ich so sehr liebte.
»Es ist wegen des Nachtigallenbodens«, sagte Kotaro. »Ich glaube, Shigeru ließ einen um das Haus bauen und du hast es geschafft, ihn lautlos zu beschreiten.«
Mir war, als sei ich wieder dort: Ich spürte die schwere Nachtluft des sechsten Monats, sah, wie ich lief, so leise wie ein Geist, hörte Shigerus Stimme: Kannst du es wieder tun?
Ich versuchte das Lächeln zu unterdrücken, das sich auf mein Gesicht stehlen wollte.
»Du musst sofort aufbrechen«, fuhr Kotaro fort. »Du musst hin und wieder zurück, bevor der Schnee kommt. Es ist kurz vor Jahresende. Um die Mitte des ersten Monats werden Hagi und Matsue vom Schnee eingeschlossen sein.«
Zuvor hatte er nicht wütend geklungen, aber jetzt merkte ich, dass er sehr aufgebracht war. Vielleicht hatte er mein Lächeln geahnt.
»Warum hast du nie jemandem davon erzählt?«, wollte er wissen. »Warum hast du es vor Kenji verheimlicht?«
Ich spürte, wie jetzt mein eigener Zorn wuchs. »Lord Shigeru hat sich so verhalten und ich bin seinem Beispiel gefolgt. Ihm gehörte in erster Linie meine Treue. Ich hätte nie etwas preisgegeben, das er geheim halten wollte. Ich war damals schließlich einer der Otori.«
»Und dafür hält er sich immer noch«, warf Aldo ein. »Es ist eine Frage der Loyalität. So wird das immer bei ihm sein.« Leiser murmelte er vor sich hin: »Ein Hund kennt nur einen Herrn.«
Ich richtete meinen Blick
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