Der Pfad im Schnee
mussten ins Landesinnere gehen und steile Hänge erklettern, bevor wir den letzten Pass überquerten und zur Stadt hinunterstiegen.
Mein Herz war voller Gefühle, obwohl ich nichts sagte und nichts verriet. Die Stadt lag wie immer in der Wiege der Bucht, umkreist von ihren Zwillingsflüssen und dem Meer. Es war am späten Nachmittag der Wintersonnenwende, eine bleiche Sonne kämpfte sich durch graue Wolken. Die Bäume waren kahl, auf dem Boden lag ein dicker Laubteppich. Rauch vom Verbrennen des letzten Reisstrohs breitete über die Flüsse einen blauen Schleier, der auf gleicher Höhe wie die Steinbrücke lag.
Das Neujahrsfest wurde schon vorbereitet: Heilige Strohgebinde hingen überall und Kiefern mit dunklen Nadeln standen an Eingängen; die Schreine füllten sich mit Besuchern. Der Fluss war von der Flut angeschwollen, die gerade ihren Höhepunkt hinter sich hatte und abebbte. Er sang mir sein wildes Lied und unter seinen schäumenden Wellen glaubte ich die Stimme des Steinmetzen zu hören, der in sein Werk eingemauert war und ein endloses Gespräch mit dem Fluss führte. Ein Reiher stieg von einer seichten Stelle auf, als wir näher kamen.
Wir überquerten die Brücke und ich las wieder die Inschrift, die Shigeru mir vorgelesen hatte: Der Clan der Otori heißt die Gerechten und die Treuen willkommen. Die Ungerechten und die Untreuen sollen sich in Acht nehmen.
Ungerecht und untreu. Ich hatte das Gefühl, beides zu sein. Untreu gegenüber Shigeru, der mir seine Ländereien anvertraut hatte, und ungerecht wie der Stamm, ungerecht und erbarmungslos.
Ich ging mit hängendem Kopf und gesenktem Blick durch die Straßen und veränderte meine Züge so, wie Kenji es mich gelehrt hatte. Ich glaubte nicht, dass jemand mich erkennen würde. Ich war ein wenig gewachsen und in den letzten Monaten magerer, zugleich auch muskulöser geworden. Mein Haar war kurz geschnitten, ich trug die Kleidung eines Künstlers. Meine Körpersprache, meine Ausdrucksweise, mein Schritt - alles an mir war anders als in den Tagen, in denen ich als junger Lord vom Clan der Otori durch diese Straßen gegangen war.
Unser Ziel war eine Brauerei am Stadtrand. In der Vergangenheit war ich Dutzende Male vorbeigegangen und hatte nichts von ihrem eigentlichen Gewerbe gewusst. Aber, dachte ich, Shigeru würde es gewusst haben. Der Gedanke gefiel mir, dass er die Aktivitäten des Stamms beobachtet und Dinge gewusst hatte, von denen sie keine Ahnung hatten, wie zum Beispiel von meiner Existenz.
Hier waren die Vorbereitungen für die Winterarbeit in vollem Gang. Riesige Mengen Holz wurden gesammelt, um die Bottiche zu erhitzen, und die Luft war dick vom Geruch nach gärendem Reis. Ein kleiner, zerstreuter Mann, der Kenji ähnelte, begrüßte uns. Er war aus der Familie Muto und hieß Yuzuru. So spät im Jahr hatte er keine Besucher mehr erwartet, und dass ich gekommen war, beunruhigte ihn ebenso wie das, was er über unseren Auftrag erfuhr. Eilig brachte er uns in einen verborgenen Raum.
»Es sind schreckliche Zeiten«, sagte er. »Die Otori sind überzeugt, dass es im Frühjahr zu einem Krieg mit Arai kommt. Im Moment beschützt uns nur der Winter.«
»Hast du von Arais Feldzug gegen den Stamm gehört?«
»Jeder spricht davon«, antwortete Yuzuru. »Man hat uns gesagt, wir sollten aus diesem Grund die Otori nach besten Kräften gegen ihn unterstützen.« Er warf einen Blick auf mich und sagte verärgert: »Unter Iida war die Lage viel besser. Und sicher ist es ein schwerer Fehler, ihn hierher zu bringen. Wenn ihn jemand erkennt…«
»Wir sind morgen wieder fort«, entgegnete Akio. »Er muss nur etwas aus seinem ehemaligen Zuhause holen.«
»Aus Lord Shigerus Haus? Das ist Wahnsinn. Er wird gefasst werden.«
»Das glaube ich nicht. Er ist sehr begabt.« Ich glaubte Spott unter dem Kompliment zu hören und nahm es als weiteren Hinweis, dass er plante, mich zu töten.
Yuzuru schob die Unterlippe vor. »Selbst Affen fallen von Bäumen. Was kann so wichtig sein?«
»Wir glauben, Otori könnte ausführliche Aufzeichnungen über Stammesangelegenheiten aufbewahrt haben.«
»Shigeru? Der Bauer? Unmöglich!«
Akios Blick wurde hart. »Warum glaubst du das?«
»Das weiß jeder… nun, Shigeru war ein guter Mann. Jeder liebte ihn. Sein Tod war eine schreckliche Tragödie. Aber er ist gestorben, weil er…« Yuzuru blinzelte wütend und sah mich entschuldigend an. »Er war zu leichtgläubig. Unschuldig fast. Er war nie ein Verschwörer. Er wusste
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