Der Pfad im Schnee
nichts über den Stamm.«
»Wir haben Gründe, etwas anderes anzunehmen«, sagte Aldo. »Bevor der Morgen graut, werden wir wissen, wer Recht hat.«
»Ihr geht heute Nacht dorthin?«
»Wir müssen zurück in Matsue sein, bevor die Schneefälle beginnen.«
»Nun, die werden wir in diesem Jahr früh haben. Vielleicht noch vor Jahresende.« Yuzuru schien erleichtert, über etwas so Alltägliches wie das Wetter zu reden. »Alle Zeichen deuten auf einen langen, harten Winter. Und wenn der Frühling den Krieg bringt, dann wünschte ich, er würde nie kommen.«
Es war schon eiskalt in dem kleinen dunklen Zimmer, dem dritten dieser Art, in dem ich versteckt wurde. Yuzuru selbst brachte uns Essen, Tee, der schon abgekühlt war, als wir ihn kosteten, und Wein. Akio trank Wein, ich aber nicht, ich brauchte wache Sinne. Wir saßen schweigend beisammen, während es dunkelte.
In der Brauerei um uns herum wurde es still, auch wenn der Geruch nicht verschwand. Ich horchte auf die Geräusche der Stadt, von denen jedes mir so vertraut war, dass ich glaubte, genau angeben zu können, woher es kam, aus welcher Straße, welchem Haus. Die Vertrautheit entspannte mich, und meine düstere Stimmung hob sich ein wenig. Die Glocke von Daishoin, dem nächsten Tempel, läutete zum Abendgebet. Ich stellte mir das verwitterte Gebäude vor, die tiefgrüne Finsternis seines Hains und die Steinlaternen, die Gräber der Otorilords und ihrer Gefolgsleute bezeichneten. Ich versank in einer Art Wachtraum, in dem ich zwischen ihnen umherging.
Dann kam Shigeru wieder zu mir wie aus einem weißen Nebel, von Wasser und Blut überströmt, mit schwarzen brennenden Augen und einer unverkennbaren Botschaft für mich. Ich wachte schlagartig auf und schauderte vor Kälte.
Akio sagte: »Trink ein wenig Wein, er beruhigt deine Nerven.«
Ich schüttelte den Kopf und machte die Lockerungsübungen, die im Stamm üblich waren, bis mir warm wurde. Dann saß ich meditierend da, versuchte die Wärme zu erhalten, konzentrierte meine Gedanken auf die Arbeit der Nacht und sammelte alle meine Kräfte, wobei ich jetzt wusste, wie ich willentlich tun konnte, was ich einst instinktiv getan hatte.
Von Daishoin erklang die Glocke. Mitternacht.
Ich hörte Yuzuru kommen, die Tür glitt auf. Er winkte uns und führte uns durchs Haus zum Außentor. Hier verständigte er die Wachen und wir kletterten über die Mauer. Ein Hund bellte kurz, wurde aber mit einem Klaps zum Schweigen gebracht.
Es war stockdunkel, die Luft eiskalt, ein rauer Wind kam vom Meer. In einer so scheußlichen Nacht war niemand auf den Straßen. Wir gingen schweigend zum Flussufer und dann nach Südosten zu der Stelle, wo sich die Flüsse vereinigten. Das Fischwehr, auf dem ich so oft zur anderen Seite gewechselt war, lag durch die Ebbe frei. Direkt dahinter stand Shigerus Haus. Am nahen Ufer waren Boote festgemacht. In ihnen überquerten wir damals den Fluss zu seinen Ländereien auf der gegenüberliegenden Seite, den Reisfeldern und Höfen, wo er versuchte, mir einiges über Landwirtschaft und Bewässerung, Getreide und Gehölz beizubringen. Und Boote hatten uns Holz für das Teehaus und den Nachtigallenboden gebracht; sie hatten mit den süß duftenden Brettern, die frisch aus den Wäldern jenseits der Höfe kamen, tief im Wasser gelegen. Heute Nacht war es zu finster, um die Berghänge zu erkennen, auf denen die Bäume gewachsen waren.
Wir kauerten uns an den Rand der schmalen Straße und beobachteten das Haus. Lichter waren nicht zu sehen, nur der gedämpfte Schein einer Kohlenpfanne aus dem Wachraum am Tor. Ich hörte Männer und Hunde im Schlaf tief atmen. Mir kam der Gedanke, dass sie nicht so schlafen würden, wenn Shigeru noch am Leben wäre. Ich ärgerte mich um seinetwillen, auch über mich.
Akio flüsterte: »Du weißt, was du zu tun hast?«
Ich nickte.
»Dann geh.«
Wir machten keine anderen Pläne. Er schickte mich einfach los, als wäre ich ein Falke oder ein Jagdhund. Ich hatte eine ziemlich gute Vorstellung von seinem eigenen Plan: Wenn ich mit den Aufzeichnungen zurückkam, würde er sie nehmen - und berichten, dass ich unglücklicherweise von den Wachen getötet worden sei, meine Leiche hätten sie in den Fluss geworfen.
Ich überquerte die Straße, wurde unsichtbar, kletterte die Mauer hinauf und sprang in den Garten. Sofort umfing mich das gedämpfte Lied des Hauses: das Seufzen des Windes in den Bäumen, das Murmeln des Bachs, das Plätschern des Wasserfalls, das Rauschen des
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