Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Pfad im Schnee

Der Pfad im Schnee

Titel: Der Pfad im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
Vom Netzwerk:
Müdigkeit.
    »Sie sind noch auf dem Berg. Sie benutzen Pfade durch den Wald, die Sie über die Grenze bringen werden. Aber mit dem ersten Schnee ziehen die Köhler fort.« Er schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Wir müssen unterwegs mit jemandem reden.«
    »Mit wem?«
    »Es wird nicht lange dauern.« Er lächelte wieder schwach. Wir gingen hinaus, ich kniete mich ans Flussufer und spritzte mir Wasser ins Gesicht. Es war eisig; wie Jo-An vorausgesagt hatte, war die Temperatur gefallen und die Luft trockener. Für Schnee war es zu kalt und zu trocken.
    Ich schüttelte mir das Wasser von den Händen, während er mit den Männern sprach. Immer wieder schauten sie kurz zu mir her. Als wir gingen, hörten sie auf zu arbeiten und knieten mit gesenkten Köpfen vor uns nieder.
    »Wissen sie, wer ich bin?«, fragte ich leise Jo-An. Wieder fürchtete ich Verrat von diesen Männern, die so wenig besaßen.
    »Sie wissen, dass Sie Otori Takeo sind«, antwortete er. »Der Engel von Yamagata, der Gerechtigkeit und Frieden bringen wird. Das sagt die Prophezeiung.«
    »Welche Prophezeiung?«
    »Sie werden sie selbst hören.«
    Ich war voller Misstrauen. Wie kam ich dazu, mein Leben diesem Verrückten anzuvertrauen? Jeder vergeudete Augenblick würde mich doch daran hindern, Terayama zu erreichen, bevor entweder der Schnee oder Stammesangehörige mich einholten. Aber ich erkannte jetzt, dass meine einzige Hoffnung war, über den Berg zu kommen. Ich musste Jo-An folgen.
    Wir überquerten den kleinen Fluss etwas oberhalb eines Fischwehrs. Wir kamen an einigen Leuten vorbei, zwei Fischern und ein paar Mädchen mit Nahrung für die Männer, die Reisstroh verbrannten und Dung auf den leeren Feldern verteilten. Die Mädchen stiegen lieber die Böschung hinauf, als unseren Pfad zu kreuzen, und einer der Fischer spuckte uns an. Der andere verfluchte Jo-An, weil er das Wasser verunreinigt habe. Ich senkte den Kopf und wandte das Gesicht ab, doch sie achteten nicht auf mich. Sie vermieden es sogar, uns direkt anzuschauen, als würde schon dieser Kontakt Beschmutzung und Unheil bedeuten.
    Jo-An schien die Feindseligkeit nicht zu bemerken, er zog sich in sich selbst zurück wie in einen dunklen Umhang, doch als wir an den Leuten vorbei waren, sagte er: »Sie haben uns nicht erlaubt, mit den Häuten über die Holzbrücke zu gehen. Deshalb mussten wir lernen, unsere eigene Brücke zu bauen. Die andere ist jetzt zerstört, aber sie weigern sich immer noch, unsere zu benutzen.« Er schüttelte den Kopf und flüsterte: »Wenn sie nur den Geheimen kennen würden!«
    Am anderen Ufer folgten wir dem Fluss eine weitere Meile, wandten uns dann nach Nordosten und begannen bergauf zu steigen. Die kahlen Ahornbäume und Eichen wichen Kiefern und Zedern. Der Wald wurde dichter, der Pfad dunkler und immer steiler, bis wir über Felsen und Findlinge klommen und uns ebenso häufig auf allen vieren weiterkämpften wie im aufrechten Gang. Der Schlaf hatte mich erfrischt und ich merkte, wie die Kraft zurückkehrte. Jo-An kletterte unermüdlich, er keuchte kaum. Sein Alter ließ sich schwer erraten. Armut und Leiden hatten ihn ausgezehrt, deshalb sah er aus wie ein alter Mann, doch wahrscheinlich war er kaum über dreißig. Es war etwas Überirdisches an ihm, als wäre er tatsächlich von den Toten zurückgekehrt.
    Schließlich gelangten wir über einen Bergkamm und standen auf einem kleinen Plateau. Ein großer Felsen lag darauf, er war von der Klippe über uns herabgestürzt. Unter uns sah ich den Fluss schimmern, er war fast so weit entfernt wie Tsuwano. Rauch und Nebel zogen über das Tal. Die Wolken hingen tief und verbargen die gegenüberliegende Bergkette. Der Anstieg hatte uns erhitzt, uns sogar schwitzen lassen, aber als wir anhielten, stieg unser Atem weiß in die kalte Luft. Ein paar späte Beeren leuchteten noch rot von kahlen Büschen; sonst war nirgendwo Farbe zu sehen. Selbst die immergrünen Bäume wirkten fast schwarz. Wasser rieselte und auf der Klippe riefen zwei Krähen einander etwas zu. Als sie wieder schwiegen, hörte ich jemanden atmen.
    Das Geräusch kam langsam und gleichmäßig aus dem Felsen. Ich atmete langsamer, berührte Jo-An am Arm und wies mit einer Kopfbewegung auf den Fels.
    Er lächelte und sagte leise: »Das ist in Ordnung. Diesen Menschen wollen wir sehen.«
    Die Krähen schrien wieder, ihre Stimmen waren rau und drohend. Ich fing an zu frösteln. Die Kälte kroch an mir hoch, hüllte mich ein. Die Ängste der vergangenen

Weitere Kostenlose Bücher