Der Pfad im Schnee
und du musst noch fünf Stunden gehen. Verbringe die Nacht hier, morgen früh gehen wir zusammen.«
»Bis dahin wird der Schneesturm den Pfad unpassierbar gemacht haben«, sagte ich. »Im Tempel möchte ich eingeschneit sein, nicht hier.«
»Das ist der erste Schnee in diesem Jahr. Auf dem Berg fällt er dicht, doch unterhalb von hier hast du es mehr mit Schneeregen und Hagel zu tun.« Er lächelte und zitierte das alte Gedicht: »In Nächten, wenn der Schnee, vermischt mit Regen, fällt … leider bin ich so arm wie der Dichter und seine Familie!«
Es war einer der ersten Texte, die ich in Ichiros Unterricht geschrieben hatte, und er brachte mir den alten Lehrer mit schmerzhafter Klarheit in den Sinn. Ich wurde von Schüttelfrost gepackt. Jetzt, wo ich mich nicht mehr bewegte, fing ich wirklich an zu frieren. Ich schälte mich aus den nassen Sachen. Makoto breitete sie vor der Kohlenpfanne aus, legte ein wenig Holz nach und blies in die Glut.
»Das sieht aus wie Blut«, sagte er. »Bist du verletzt?«
»Nein, jemand hat versucht, mich an der Grenze zu töten.«
»Dann ist es also sein Blut?«
Ich nickte und wusste nicht, wie viel ich ihm zu seiner Sicherheit und meiner sagen konnte.
»Folgt dir jemand?«
»Jemand folgt mir oder liegt auf der Lauer, bis ich komme. So wird es jetzt bis zu meinem Tod sein.«
»Sagst du mir, warum?« Er zündete am Feuer eine dünne Wachskerze an und hielt sie an den Docht einer Petroleumlampe. Die Lampe fing zischend an zu brennen. »Ich habe nicht viel Petroleum«, sagte er entschuldigend und schloss die äußeren Läden.
Die Nacht dehnte sich vor uns. »Kann ich dir vertrauen?«, fragte ich.
Die Frage brachte ihn zum Lachen. »Ich habe keine Ahnung, was du durchgemacht hast, seit wir uns zum letzten Mal sahen, oder was dich jetzt hierher bringt. Und du weißt nichts über mich. Wenn du es wüsstest, müsstest du nicht fragen. Ich werde dir alles später erzählen. Inzwischen, ja, du kannst mir vertrauen. Wenn du sonst keinem vertraust, dann vertrau mir.«
Tiefe Bewegung war aus seiner Stimme herauszuhören. Er wandte sich ab. »Ich wärme etwas Suppe auf. Es tut mir Leid, ich habe weder Wein noch Tee.«
Ich dachte daran, wie er mich in meinem schrecklichen Schmerz nach Shigerus Tod getröstet hatte. Er hatte mir wieder Mut gemacht, während ich von Schuldgefühlen zerfressen wurde, und hatte mich in seinen Armen gehalten, bis der Kummer dem Begehren wich, und beide waren besänftigt worden.
»Ich kann nicht beim Stamm bleiben. Ich habe ihn verlassen und sie werden mich verfolgen, bis sie mich hinrichten können.«
Makoto holte einen Topf aus der Ecke und stellte ihn sorgfältig auf die Glut. Er sah mich wieder an.
»Sie wollten, dass ich die Aufzeichnungen finde, die Shigeru über sie aufbewahrte«, sagte ich. »Sie haben mich nach Hagi geschickt. Ich sollte Ichiro, meinen Lehrer, töten und ihnen die Schriften bringen. Aber natürlich waren sie nicht dort.«
Makoto lächelte, sagte aber immer noch nichts.
»Das ist einer der Gründe, warum ich nach Terayama muss. Weil die Aufzeichnungen dort sind. Du wüsstest das, nicht wahr?«
»Wir hätten es dir gesagt, wenn du nicht schon beschlossen hättest, mit dem Stamm zu gehen«, erklärte er. »Aber gegenüber Lord Shigeru waren wir verpflichtet, das Risiko nicht einzugehen. Er hatte uns die Aufzeichnungen anvertraut, weil er wusste, dass unser Tempel einer der wenigen in den Drei Ländern ist, in die keine Stammesangehörigen eingeschleust wurden.«
Er schüttete die Suppe in eine Schale und reichte sie mir. »Ich habe nur eine Schale. Ich habe keine Gäste erwartet. Und am wenigsten erwartete ich dich!«
»Warum bist du hier?«, fragte ich. »Verbringst du den Winter hier?« Ich sprach es nicht aus, aber ich bezweifelte, dass er überleben würde. Vielleicht wollte er es nicht. Ich trank einen Schluck Suppe. Sie war heiß und salzig, doch das war schon alles, was man über sie sagen konnte. Und sie schien seine einzige Nahrung zu sein. Was war aus dem energischen jungen Mann geworden, den ich zuerst in Terayama getroffen hatte? Was hatte ihn in diesen Zustand der Resignation, fast der Verzweiflung getrieben?
Ich zog die Decke um mich und rutschte ein wenig näher ans Feuer. Wie immer horchte ich. Der Wind hatte zugenommen und pfiff durchs Strohdach. Hin und wieder ließ ein Luftzug die Lampe flackern, dann warf sie groteske Schatten auf die gegenüberliegende Wand. Das Geräusch des Niederschlags draußen war
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