Der Pfad im Schnee
könnte die Gebete sprechen, die meine Mutter mich gelehrt hatte, aber ich glaubte nicht mehr an ihre Macht und meine Lippen waren vom Frost erstarrt.
Die Musik wurde lauter. Ich näherte mich ihrem Ursprung, doch ich konnte nicht aufhören zu gehen, als hätte sie mich verzaubert und zöge mich zu sich. Ich bog um die Ecke und sah die Weggabelung. Sofort fiel mir ein, was mein Führer mir gesagt hatte, und tatsächlich, da war der kleine Schrein, gerade noch sichtbar, drei Orangen lagen davor und leuchteten hell unter ihren Schneekappen. Hinter dem Schrein stand eine kleine Holzhütte mit einem Strohdach. Meine Angst legte sich sofort und ich hätte fast laut gelacht. Nicht einen Kobold hatte ich gehört, sondern einen Mönch oder Einsiedler, der sich auf den Berg zurückgezogen hatte, um Erleuchtung zu finden.
Jetzt roch ich Rauch. Die Wärme zog mich unwiderstehlich an. Ich stellte mir vor, wie die Kohlen meine durchnässten Füße trockneten und die Eisblöcke schmolzen, in die sie sich verwandelt hatten. Fast spürte ich die Hitze im Gesicht. Die Hüttentür stand offen, um Licht herein- und Rauch hinauszulassen. Der Flötenspieler hatte mich weder gehört noch gesehen. Er war in die traurige, überirdische Musik versunken.
Noch bevor ich ihn sah, wusste ich, wer es war. Ich hatte die gleiche Musik zuvor gehört, Nacht für Nacht, als ich an Shigerus Grab trauerte. Makoto war es, der junge Mönch, der mich getröstet hatte. Mit gekreuzten Beinen saß er da, die Augen geschlossen. Er spielte auf der langen Bambusflöte, doch eine kleinere Querflöte lag auf dem Kissen neben ihm. Eine Kohlenpfanne brannte qualmend beim Eingang. Im Hintergrund der Hütte war ein erhöhter Schlafbereich. Ein hölzerner Schlagstock lehnte an der Wand, andere Waffen waren nicht zu sehen. Ich trat ein - selbst mit der Kohlenpfanne war es nur wenig wärmer als draußen - und sagte leise: »Makoto?«
Er öffnete weder die Augen noch hörte er auf zu spielen.
Ich wiederholte seinen Namen. Die Musik brach ab, er nahm die Flöte von den Lippen. Erschöpft flüsterte er: »Lass mich allein. Hör auf, mich zu quälen. Es tut mir Leid. Es tut mir Leid.« Noch immer schaute er nicht auf.
Als er die Flöte wieder ansetzte, kniete ich mich vor ihn und berührte ihn an der Schulter. Er öffnete die Augen, sah mich an, sprang zu meiner Überraschung auf und warf die Flöte zur Seite. Er wich vor mir zurück, packte den Stock und streckte ihn drohend aus. Seine Augen waren voller Schmerz, sein Gesicht abgezehrt, als hätte er gefastet. »Bleib weg von mir!« Seine Stimme klang gepresst und rau.
Ich stand ebenfalls auf. »Makoto«, sagte ich freundlich, »es ist kein Feind. Ich bin es. Otori Takeo.«
Ich machte einen Schritt auf ihn zu und sofort schwang er den Stock und zielte auf meine Schulter. Zum Glück sah ich den Schlag kommen und wehrte ihn ab und zum Glück konnte Makoto in dem engen Raum nicht weit ausholen, sonst hätte er mir das Schlüsselbein gebrochen. So warf er mich zu Boden. Der Schreck musste ihm bis in die Hände gefahren sein, denn er ließ den Stock fallen und schaute erstaunt auf seine Finger, dann auf mich am Boden.
»Takeo?«, sagte er. »Bist du es wirklich? Und nicht dein Geist?«
»Wirklich genug, um halb bewusstlos zu sein.« Ich stand auf und beugte meinen Arm. Sobald ich sicher war, dass ich nichts gebrochen hatte, zog ich aus meinen Kleidern das Messer. Mit ihm in der Hand fühlte ich mich sicherer.
»Verzeih mir«, sagte Makoto. »Ich würde dir nie etwas tun. Ich habe nur deine Erscheinung so oft gesehen.« Er sah aus, als würde er mich am liebsten berühren, dann wich er zurück. »Ich kann nicht glauben, dass du es bist. Welches seltsame Schicksal bringt dich zu dieser Stunde hierher?«
»Ich bin auf dem Weg nach Terayama. Zweimal wurde mir dort Zuflucht angeboten. Jetzt muss ich dieses Angebot annehmen bis zum Frühjahr.«
»Ich kann nicht glauben, dass du es bist«, wiederholte er. »Du bist völlig durchnässt. Du musst durchfroren sein.« Er schaute sich in der winzigen Hütte um. »Ich habe so wenig anzubieten.« Er wandte sich zum Schlafbereich, stolperte über den Stock und bückte sich, um ihn aufzuheben. Dann stellte er ihn wieder an die Wand und nahm eine der dünnen Hanfdecken vom Bett. »Zieh deine Sachen aus. Wir trocknen sie. Leg das hier um.«
»Ich muss weiter. Ich werde mich nur eine Weile ans Feuer setzen.«
»Heute Nacht kommst du nie nach Terayama. In einer Stunde ist es dunkel
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