Der pfeifende Mörder
Mordfälle zu bringen.
Tausend Gulden – das stellte damals eine ganz andere Summe dar als heute – wurden als Belohnung für die Ergreifung des Mörders (oder für Hinweise, die zu dessen Ergreifung führten) ausgesetzt. Der Fabrikant Fried Eemslor verdoppelte aus eigener Schatulle diesen Betrag. Der Polizeiapparat lief auf vollen Touren. Von den Zeitungen konnte man den Eindruck haben, daß sie eigentlich kein anderes Thema mehr hatten – nicht nur in Holland. In ganz Europa und natürlich auch Nordamerika, wo Crime und Sex in den Massenblättern von jeher einen breiten Raum einnehmen, begannen die Redaktionen, in ihre Spalten den ›Pfeifenden Mörder‹ einzuführen.
Die Zentralkriminalpolizei in Amsterdam schickte drei weitere Experten nach Leeuwarden, die sich noch einmal über alle bisherigen Spuren hermachten. Dünn genug waren dieselben. Noch einmal wurden alle Personen, mit denen schon gesprochen worden war, verhört. Noch einmal wurden die Meeresströmungen vom Hydrographischen Institut gemessen. Noch einmal wurde in den Lebensläufen der ermordeten Mädchen herumgestochert. Und noch einmal hätte man sich alles schenken können. Man rückte dem Täter keinen Schritt näher.
Paul Leerdam fand keinen ruhigen Schlaf mehr. Ein Zwischenbericht der Sonderkommission lag ihm schwer im Magen. Vor allem der letzte Absatz machte ihm zu schaffen. Dieser lautete:
›Es ist nach Lage und Ausführung der Morde zu vermuten, daß die beiden Fälle Kappel und Tenboldt nur der Beginn einer Mordserie sind, da es sich hier um einen sexuell ungemein erregbaren und in der Erregung sich bis zum Wahnsinn steigernden Mörder handelt, der aufgrund seiner abnormen Veranlagung neue Opfer suchen und finden wird. Größte Vorsicht und vor allem ständige Warnungen an die weibliche Bevölkerung sind daher dringend als erste Gegenmaßnahmen notwendig. Rundfunk und Presse sind dahingehend angewiesen worden.‹
Der Beginn einer Mordserie … das war es, was Leerdam den Schlaf raubte. Was er die ganze Zeit selbst auch schon gedacht, hatte, befürchtet hatte, worüber er mit seinem Assistenten häufig genug schon gesprochen hatte, das wurde nun amtlich-trocken vom Bericht der ›Sonderkommission Leeuwarden‹, wie sie sich nannte, zum Ausdruck gebracht. Etwas Neues sagte man damit dem Kommissär nicht, aber trotzdem lasteten die schrecklichen vier Worte schwer auf seiner Seele. Und das Schlimmste war, daß niemand einen Anhaltspunkt hatte. Auch die Superspezialisten aus Amsterdam konnten nur mit den Schultern zucken, wenn ihnen entsprechende Fragen gestellt wurden. Letzteres widerfuhr ihnen inzwischen sogar auch schon von seiten des Innenministers. Im übrigen waren aber die Herren, soweit es ging, sehr darauf bedacht, sich diskret im Hintergrund zu halten. An der Front den Kopf hinzuhalten – sprich: der Presse Rede und Antwort zu stehen –, das überließen sie gerne dem armen Kommissär Paul Leerdam von der Fußtruppe.
Damals gab's noch kein Fernsehen. Dieses schickte sich in jenen Jahren erst dazu an, das Kommando auf dem Tummelplatz der Medien zu übernehmen. Vorerst warnten also nur Rundfunk und Presse alle jungen Mädchen und Frauen davor, sich von einem Unbekannten, dessen Wesen besonderen Charme ausstrahlte, ansprechen zu lassen und mit ihm ein Wiedersehen außerhalb der Stadt an einem nebeligen Abend zu vereinbaren. Jede, der ein solches Angebot gemacht werde, möge sich, so hieß es, sofort an die nächste Polizeidienststelle wenden.
Die ganze westfriesische Küste von Meppel bis Groningen war in Bereitschaft. Die Begräbnisse der beiden Opfer hatten unter großer Beteiligung der Bevölkerung stattgefunden. Der Schrotthändler Dan Paldoorn, der den ersten Kopf gefunden hatte, war ein vielseitiger Geschäftsmann. Er zog nicht nur Gewinn aus Schrott und Lumpen, die in großem Stil gesammelt wurden, sondern besaß auch drei Beerdigungswagen. Die Aufträge, die Opfer zum Leeuwardener Friedhof zu fahren, wurden an ihn vergeben, und er hatte Grund zur Sorge, weil seine Wagen beinahe unter der Last der Kränze zusammengebrochen wären.
Einer alten Erfahrung folgend, hatten Zivilbeamte der Polizei den Friedhof während der Begräbnisse im Auge behalten. Jeder der Trauergäste wurde scharf beobachtet. Oft kehrt ja der Mörder zu seinem Opfer zurück und sieht zu, wie es beigesetzt wird. Der unheimliche Drang dazu soll sogar noch stärker sein als jener, immer wieder zum Tatort zurückzukehren.
Aber auch hier mußten von
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