Der pfeifende Mörder
angenommen, wenn Heiner uns nicht den Anzug herausgefischt hätte.« Leerdam schöpfte Atem und kam zum Schluß: »Ich sehe jetzt klarer. Der Mörder hat lediglich Ruth Kappel bei Leeuwarden getötet. Alle anderen Morde verübte er in größeren Entfernungen von der Stadt. Nur die Leichen legte er uns quasi schön ausgerichtet im oder am Wasser sozusagen vor die Tür. Wir müssen jetzt bei der Eisenbahnfähre ansetzen. Ein Aufruf an alle Reisenden dieses Tages, sich zu melden, ist fällig. Jede Beobachtung muß als wichtig angesehen werden. Vor allem: Wer hat ein aus dem Rahmen fallendes Gepäckstück, einen überdimensionierten Koffer oder Sack, bemerkt? Wem gehörte es? Vielleicht können wir so den Mörder einkreisen. Ich hoffe es jedenfalls, hoffe es sogar sehr und sehe das erste Licht in dem verdammten Nebel, der die Morde und auch uns bei unserer Arbeit umlagert.«
Eine neue Großfahndung lief an.
Nach einer Woche hatte Leerdam eine lange Liste vor sich liegen mit den Namen eines Teiles der Passagiere, die am fraglichen Tag die Eisenbahnfähre benutzt hatten. Ihm gegenüber saß ein neu aus Den Haag angereister hoher Beamter des Innenministeriums, den der Minister selbst entsandt hatte, und wartete auf Erklärungen.
Mit dem Zeigefinger auf der Liste sagte Leerdam: »Von denen kenne ich fast jeden persönlich.«
»Wieso?« fragte der Ministerialbeauftragte.
»Sind nur Leeuwardener. Es scheint, als sei damals die halbe Stadt von Enkhuizen nach Stavoren unterwegs gewesen.«
»Ist die Liste vollständig?«
»Keineswegs. Die Fähre war voll besetzt. Die uns vorliegenden Namen füllen aber nur ein gutes Drittel der Kapazität der Fähre aus.«
»Und wieso fehlen die restlichen zwei Drittel?« fragte das hohe Tier zornig.
»Weil sich die Betreffenden auf unseren Aufruf nicht gemeldet haben«, antwortete ruhig und gelassen Leerdam.
»Kann man denen nicht Strafe androhen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil die gesetzliche Handhabe dazu fehlt.«
Theorie und Praxis klafften also wieder einmal auseinander. Der Ministerialbeauftragte war ein As auf seinem Gebiet, aber dieses Gebiet war ein ganz anderes als das des Kommissärs Leerdam, und deshalb konnte sich der Mann hier nur Blößen geben.
»Haben Sie dann wenigstens schon damit begonnen«, fragte er, »sich Ihre Leeuwarder vorzuknöpfen?«
Leerdam seufzte.
»Das ist nicht so einfach.«
»Wieso?«
»Weil es sich dabei ausnahmslos um angesehene Bürger handelt, die mir, wie gesagt, persönlich bekannt sind.«
»Trotzdem muß jeder unter die Lupe genommen werden.«
»Sogar zwei meiner Polizisten befinden sich darunter.«
»Überprüfen Sie die als erste, um sich nicht dem Verdacht der Begünstigung auszusetzen. Tun Sie alles, unterlassen Sie nichts, wenn Ihnen daran liegt, daß nicht morgen oder übermorgen der Herr Ministerpräsident selbst hier erscheint.«
Die Sache lief also an.
Sogar der Mörder merkte es, und er packte in aller Ruhe seine Koffer, verstaute sie in seinem Wagen und hatte die Frechheit, vor der Abfahrt den Kommissär Leerdam anzurufen und ihn zu fragen, ob man polizeilicherseits etwas dagegen habe, daß er für zwei Wochen verreise.
»Sie wollen verreisen?« antwortete Leerdam.
»Ja – aber nur, wenn Sie, wie gesagt, damit einverstanden sind.«
»Natürlich bin ich das«, erklärte Leerdam und setzte hinzu: »Aber sagen Sie, wie kommen Sie überhaupt darauf, mich das zu fragen?«
»Weil doch längst durchgesickert ist, auf wen sich euer Verdacht jetzt konzentriert.«
»Auf wen denn?«
»Auf uns Leeuwardener, die wir damals die Eisenbahnfähre von Enkhuizen nach Stavoren benutzt haben.«
»So? Und das ist durchgesickert?«
»Längst.«
Leerdam mußte, ob er wollte oder nicht, lachen. »Ich wünsche Ihnen eine gute Reise«, sagte er.
»Danke. Darf ich das so auffassen, daß sich gegen mich kein Verdacht richtet?«
»Das dürfen Sie. Wann kommen Sie denn zurück?«
»Ich sagte schon: in zwei Wochen.«
»Richtig, in zwei Wochen.«
»Ich melde mich dann.«
»Nicht nötig. Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen, Herr Kommissär.«
Der Mörder fuhr nach Aachen und verbrachte dort nette Tage. Er lief durch die hellerleuchteten Straßen, saß im Theater und lachte über eine Komödie von Shakespeare, ging ins Kino oder stand im weiten Raum des Domes und bestaunte den Thronsitz Karls des Großen. Er sprach auch ein paarmal junge Mädchen an, verlebte einige angenehme Stunden mit ihnen, ohne in seinen Rausch zu verfallen.
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