Der Pfeil der Rache
wo Guy, der wie gewöhnlich schon früh sein Morgenbrot zu sich genommen hatte, am Tische saß und in seinem kostbaren Buch las, Vesalius’
De Humanis Corpora Fabrica
. Sein erstes Exemplar war ihm zwei Jahre zuvor von seinem damaligen Lehrburschen gestohlen worden, und es hatte ihn viel Geld und Mühe gekostet, es durch ein neues zu ersetzen. Er strich mit dem Finger über eine der schönen, aber grausigen Abbildungen, die Illustration eines abgehäuteten Arms.
»Du studierst wieder, Guy?«
»Die Weisheit dieser Schriften erstaunt mich immer wieder aufs Neue.« Er lächelte traurig. »Coldiron sah mich unlängst darin lesen und bekundete großes Interesse. Er schwärmte sogleich von den menschlichen Innereien, die er bei Flodden gesehen hatte.«
»Das sieht ihm ähnlich. Guy, was hältst du von Josephine?«
Er lehnte sich zurück und überlegte. »Sie ist scheu. Nicht eben glücklich, wie ich meine. Wen wundert’s, mit Coldiron als Vater. Auch sie sah mich neulich den Vesalius lesen. Doch sie wandte sich ab, wurde ganz grün im Gesicht.«
»Ich kann es ihr nicht verübeln. Sie hat doch keinen Verehrer?«
»Nein. Schade eigentlich, denn sie ist gutmütig und durchaus hübsch, wäre sie nur ein wenig mehr auf ihr Äußeres bedacht.«
»Coldiron mäkelt in einem fort an ihr herum. Das trägt wenig zu ihrem Selbstvertrauen bei.«
»Ich stand vor einigen Tagen im Flur und hörte, wie er sie in der Küche anbrüllte. Schalt sie eine alberne Gans, weil ihr etwas zu Boden gefallen war. Sie brach in Tränen aus. Ich war erstaunt, als Coldiron ihr danach Trost zusprach. ›Bei mir bist du sicher‹, sagte er und nannte sie seine JoJo.«
»Sicher wovor?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich will ihn loswerden, frage mich jedoch, wie ich seine Tochter behalten kann.«
»Ich fürchte, sie ist ihm gänzlich hörig.«
Ich seufzte. »Nun, ich muss gehen. Hoffentlich kann ich Barak jenes Soldatenleben ersparen, mit dem Coldiron sich großtut.«
* * *
Die Luft nach dem Gewitter war kühl, der Himmel klar und blau. Während ich die Straße entlangging, sann ich über das wenige nach, das ich über Ellen herausgefunden hatte. Wie ein guter Anwalt erwog ich Fragen der Organisation, der Macht. Man hatte eine Vereinbarung getroffen mit dem Leiter des Bedlam – wer immer dies im Jahre 1526 gewesen sein mochte –, die nach wie vor Gültigkeit besaß. Doch wer war die treibende Kraft dahinter? Irgendwie musste ich sie
retten
; ich wusste nur noch nicht, wie.
Wieder ging ich die Cheapside hinunter. Auch an diesem Morgen herrschte viel Betrieb, wurde ärgerliches Gezeter laut um das neue Geld. Ich hörte einige Händler sagen, der Hagel habe einen Großteil der Ernte rings um London vernichtet, so sei erneut ein Mangel an Getreide zu befürchten.
Ich bog in die St Laurence Lane, überquerte die North Street zur Guildhall und stieg die Stufen hinauf in die weitläufige Halle. Master Carver erwartete mich bereits, bot einen prachtvollen Anblick in dem roten Ratsherrngewand. An seiner Seite stand zu meiner Überraschung in seiner weiß-roten Uniform und dem Schwert am Gürtel der bärtige Offizier, den ich auf den Lincoln’s Inn Fields beobachtet hatte. Er maß mich grimmig.
»Guten Morgen, Sergeant Shardlake«, begrüßte mich Carver herzlich. »Euer Schreiber hat Verdruss, wie ich höre.« Er wandte sich an den Soldaten. »Master Goodryke wollte anwesend sein, da die Angelegenheit auch ihn betrifft.« Die buschigen Brauen des Offiziers zogen sich bedrohlich zusammen.
»Euer Gehilfe gebärdete sich überaus impertinent, Sir«, sagte er. »Er trotzte frech der Anweisung des Königs, indem er nicht einmal vorgibt, sich im Bogenschießen zu üben.«
»Das trifft doch wohl auf viele zu«, versetzte ich nachsichtig.
»Das ist keine Entschuldigung. Der Konstabler sagte mir, dieser Barak habe jüdische Wurzeln; vielleicht ist dies ja der Grund, warum er sich England gegenüber nicht loyal verhält, wenn es vom Feinde bedroht wird.«
Dann hat diese Geschichte also schon die Runde gemacht, dachte ich. Ich rang mir ein Lächeln ab. »Barak ist zuweilen – ein wenig respektlos. Des ungeachtet ist er ein loyaler Engländer; er stand jahrelang im Dienste Lord Cromwells.«
»Der wegen Hochverrats aufs Schafott kam«, versetzte Goodryke in scharfem Ton. »Ich sehe keinen Grund, warum man diesen Menschen freistellen sollte, nur weil er für einen Verräter tätig war.« Er reckte böse das Kinn hoch.
Ich wagte einen neuerlichen
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