Der Pilot
»Nein. nein!« jammerte sie. Tränen stiegen ihr in die braunen Augen und rollten die feisten Wangen hinab. »Nein, das ist unmöglich! Er ist fort! Sie sind beide fort!«
Sie vergrub das Gesicht in den Händen und begann hysterisch zu weinen.
Thrackan packte Hans Arm und zog ihn aus dem Haus. »Jetzt siehst du, was du angerichtet hast, du kleiner Idiot«, rief der Junge und warf einen beunruhigten Blick zum Fenster seiner Mutter hinauf. »Sie wird tagelang ganz durcheinander sein; so wie immer, wenn sie so wie eben war.«
Han zuckte die Achseln. »Ich hab’ doch gar nichts getan. Sie hat mich nur angesehen, das war alles. Was stimmt nicht mit ihr?«
Thrackan zischte einen Fluch und schlug Han so hart mit dem Handrücken ins Gesicht, daß dessen Lippen aufsprangen. »Sei still!« schnappte er. »Du hast kein Recht, so über sie zu reden! Sie ist vollkommen in Ordnung, hörst du? Vollkommen!«
Die Ohrfeige brannte, aber Han war schon oft geschlagen worden, von Experten, und er verstand sich hervorragend darauf, einen Hieb einzustecken und auf den Beinen zu bleiben. Im ersten Moment wollte er dem älteren Jungen an die Kehle fahren, doch er verordnete sich Gelassenheit. Er hatte echten Schmerz in Thrackans Augen gesehen, als dieser seine Mutter verteidigte. Han stellte sich vor, daß er wohl genauso handeln würde, wenn er denn eine Mutter hätte. Ich muß hierbleiben, rief er sich ins Gedächtnis. Alles ist besser als Shrike.
»Entschuldige«, brachte er heraus.
Thrackan wirkte ein wenig beschämt. »Paß einfach auf, was du über meine Mom sagst, okay?«
Die nächsten sechs Wochen zählten zu den seltsamsten in Hans Leben. Thrackan erlaubte Han, seine Zimmer mit ihm zu teilen (Tiion ließ sich fast nie in Thrackans Flügel des Hauses sehen), und die beiden verwendeten ihre ganze Zeit darauf, zu reden und einander kennenzulernen.
Thrackan war, wie Han bald herausfand, ein sehr anspruchsvoller Hausherr. Han mußte sich ihm bedingungslos unterordnen und bereitwillig alle seine Gebote befolgen, oder er verlor die Beherrschung und bedachte den Jüngeren mit Ohrfeigen. Thrackan brachte Han dazu, ihn mit einem betagten Landgleiter in der ländlichen Umgebung herumzukutschieren, und manchmal unternahmen die beiden Ausflüge zu verlassenen Anwesen, die Thrackan kannte und deren Besitzer in die Ferien entschwunden waren. Thrackan verlangte von Han, daß dieser die Schlösser knackte und die Alarmanlagen außer Funktion setzte, worauf der ältere Junge stahl, was immer ihm gefiel.
Han begann sich zu fragen, ob er sich einen Dienst erwiesen hatte, als er sich von der Händlerglück davongemacht hatte. Aber zwei Dinge hielten ihn auf dem Solo-Besitz zurück: die Angst, daß der Ältere ihn, wenn er diesen verstimmte, an die Behörden ausliefern könnte – was Shrike in die Lage versetzen würde, ihn ausfindig zu machen –, und die Hoffnung, daß Thrackan nachgab und ihm alles erzählte, was er über Hans wahre Identität wußte. Er ließ immer wieder Andeutungen fallen, daß er wußte, in welchem Verwandtschaftsverhältnis sie zueinander standen.
»Alles zu seiner Zeit«, beschied ihm Thrackan jedesmal, wenn Han versuchte, ihm Informationen aus der Nase zu ziehen. »Alles zu seiner Zeit, Han. Laß uns fliegen. Ich will, daß du mir beibringst, wie man den Gleiter lenkt.«
Han gab sich alle Mühe, aber Thrackan war nicht besonders begabt dafür. Der Ältere brachte sie einige Male um ein Haar zum Absturz, ehe er die Kunst, das kleine Fahrzeug zu fliegen, auch nur ansatzweise beherrschte.
Ich muß von hier verschwinden, sagte sich Han immer wieder. Ich werde auf einen anderen Planeten fliehen, wo man mich nie finden wird. Vielleicht werde ich von jemandem adoptiert oder finde Arbeit oder sonst was. Es muß einfach einen Ausweg geben.
Doch er vermochte sich keinen Weg vorzustellen, der ihn von Thrackan erlösen würde. Der Ältere war rachsüchtig, sadistisch, schlicht und ergreifend bösartig. Han beobachtete bei mehreren Gelegenheiten, wie er Insekten oder kleine Tiere quälte, und wenn er sah, daß seine Untaten den Jüngeren aufbrachten, machte er erst recht weiter. Han hatte niemals ein Haustier besessen, doch wegen Dewlanna mochte er pelzige Lebewesen sehr gern.
Er vermißte sie jeden Tag.
Die Lage wurde immer explosiver, bis Thrackan eines Tages völlig die Beherrschung verlor. Er zerrte den Jüngeren an den Haaren in die Küche, packte ein Messer und hielt es Han vor die Augen. »Siehst du das?« fauchte
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