Der Piratenlord
durchs Haar und rieb sich anschließend das Gesicht mit Meerwasser aus einem Eimer ab, den ein gewissenhafter Pirat vor ihrer Tür hinterlassen hatte. Dann eilte sie aus ihrer Kabine hinaus aufs Deck.
Sie hatte vor, mit Petey zu sprechen. Falls er eine Möglichkeit zur Flucht sah, sollte er auch ohne sie zu entkommen versuchen. Das wollte sie ihm sagen. Doch dazu musste sie ihn erst einmal finden.
Bevor sie sich gestern getrennt hatten, hatte er ihr erklärt, dass er heute Morgen Wache habe. Vielleicht entdeckte sie ihn ja, noch ehe alle anderen erwachten. Sie schaute sich auf dem Deck um und war erleichtert, dass die wenigen Wachhabenden sie kaum beachteten. Doch wo war Petey?
Vielleicht hatte man ihn in die Takelage hinaufgeschickt, wie Captain Rogers das oft gemacht hatte. Sie beschattete ihre Augen mit der Hand gegen das Licht der aufgehenden Sonne, hob den Kopf und ließ den Blick über die Masten schweifen. „Wen suchen Sie denn?“ fragte eine tiefe Stimme neben ihr. Sie zuckte zusammen und drehte sich um. Es war Gideon. Warum schlief er denn nicht mehr?
Sie merkte erst, dass sie ihn anstarrte, als er mit leiser und rauer Stimme fragte: „Nun?“
„Ich. . . ich . . .“ Wütend sagte sie das Einzige, was ihr gerade einfiel. „Sie.“
Argwöhnisch blickte er sie an. „In der Takelage?“
„Ja. Warum denn nicht?“
„Entweder haben Sie keine Ahnung von den Aufgaben eines Captain, oder Sie lügen. Was ist es also?“
Sie ignorierte das unbehagliche Gefühl, das sie beschlich, und rang sich ein Lächeln ab. „Gideon, Sie sind wirklich sehr misstrauisch. Gestern Abend haben Sie mir vorgeworfen, dass ich hinter Ihrem Rücken Pläne schmiede, und heute behaupten Sie, dass ich lüge. Nach wem, außer Ihnen, sollte ich denn wohl suchen?“
Obwohl er ihr durchdringend in die Augen sah, als versuchte er, die Wahrheit darin aufzustöbern, schaute sie ihn unschuldig
an.
Er blieb skeptisch. „Und warum suchen Sie nach mir?“ Was sollte sie denn nun darauf antworten? „Weil. . . weil ich nach unten gehen möchte.“ Ja, das war eine vernünftige Erklärung. „Ich möchte nach den Frauen sehen und mit dem Unterricht beginnen. Ich brauche ja wohl Ihre Erlaubnis dafür, da Sie sicher eine Wache . . .“
„Ist es denn nicht noch ein bisschen früh für den Unterricht? Die meisten Frauen werden doch noch schlafen.“
Seine hochgezogenen Augenbrauen machten deutlich, dass er ihr nicht glaubte. Ihr Mut sank. Schon Jordan hatte liebevoll festgestellt, dass sie keine gute Lügnerin war. Doch nie zuvor hatte sie einen verzweifelteren Grund für die Unwahrheit gehabt.
Sie wandte sich von ihm ab, ehe ihr Gesichtsausdruck sie verraten konnte. „Daran habe ich gar nicht gedacht. Es ist wirklich früh. Vielleicht mache ich erst einmal eine Runde ums Deck.“ Und dabei konnte sie nach Petey Ausschau halten und Gideon vielleicht abschütteln.
„Das ist eine großartige Idee“, sagte er, als hätte er ihre Gedanken erraten. „Es ist ein herrlicher Morgen und noch nicht heiß. Sie haben doch nichts dagegen, dass ich Sie begleite?“ Zur Hölle mit ihm. Der misstrauische Rüpel schien sie nicht aus den Augen lassen zu wollen. Sie zwang sich dazu, ihn fest anzuschauen. „Habe ich eine Wahl?“
„Sie haben immer eine Wahl, Sara.“ Unter seiner grollenden Stimme liefen ihr kleine Schauer über den Rücken. Zum ersten Mal lächelte er sie strahlend an. Das brachte sie völlig aus der Fassung und erinnerte sie daran, wie er sie gestern in seiner Kajüte festgehalten und leidenschaftlich geküsst hatte.
Wenn er nur nicht so umwerfend gut aussehen würde. Warum musste Gott die abscheulichsten Männer mit einem
Äußeren ausstatten, das Frauen schwach werden ließ? Erst Oberst Taylor und nun auch noch dieser Pirat. Das war verdammt unfair.
Sie stöhnte. Der Halunke brachte sie sogar zum Fluchen, Wo sollte das bloß enden?
Mit höflicher Geste, die gar nicht zu seinem Aufzug passte, bot er ihr den Arm. Sie zögerte. Er schaffte es, das Schlimmste aus ihr herauszulocken, und im Augenblick wollte sie lieber einen klaren Kopf behalten.
Andererseits wollte sie Gideon besser nicht provozieren, weil sie fürchtete, seinem Charme nicht widerstehen zu können. Es war besser, wenn sie ihre Kämpfe sorgfältig plante. Und davon würde es noch genügend geben.
Sie schob die Hand in seine nackte Armbeuge und ließ sich von ihm übers Deck führen. Ihre bloßen Finger berührten seine Haut. So eine Intimität war sie nicht
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