Der Planet des Todes
Everest die Grenze menschlicher Widerstandsfähigkeit gegen den Sauerstoffmangel verläuft. Vor der Expedition habe ich, ebenso wie meine Gefährten, in einer Kammer mit verdünnter Luft auf Atmen trainiert. Aber wie alle Himalajabesteiger kam ich später zu dem Ergebnis: Die Praxis sieht ganz anders aus.“
Ich schwieg eine Weile, dann wandte ich meinen Blick von den Sternen ab und fuhr fort: „Vor einem halben Jahrhundert griffen die Engländer den Mount Everest an. Sie zogen los mit einer großen Zahl von Trägern, die unter den Bergbewohnern ausgewählt worden waren. Die Expedition schlug ein Lager nach dem anderen auf und bemühte sich, bis unter den Hauptgipfel vorzustoßen, der dann in einer ganztägigen Attacke bezwungen wurde. Selbstverständlich stiegen die Engländer ohne jede Belastung auf, alle Vorräte schleppten die Träger, deren Arbeit somit schwerer war als die Anstrengungen der Alpinisten.
Bei unseren Expeditionen gab es keine Teilung in Träger und Bergsteiger. Wir bahnten alle der Reihe nach den Weg, spannten die Seile und trugen die Lasten von Lager zu Lager. Dieses ständige Hin- und Herlaufen zwischen zwei Wegabschnitten war für mich die beschwerlichste Periode der ganzen Expedition.
Der Kantschindschinga, oder, wie wir ihn in unserer Lagersprache einfach nannten, der ,Kantsch‘, ist mit seinen achttausendfünfhundertneunundsiebzig Metern der dritthöchste Gipfel der Welt. So wie andere Achttausender besteht er aus einem riesigen System von Gebirgsketten, die sternförmig in der Gipfelpyramide zusammenlaufen. Mit Rücksicht auf die Lawinengefahr sind im Himalajagebiet die Grate die einzig gangbaren Wege. Wir erstiegen einen der Ausläufer des Massivs und strebten auf seinem Rücken dem Gipfel zu. Zu der Zeit, in der meine Geschichte eigentlich erst beginnt, war die Witterung sehr gut. Vor uns lag die Schlußetappe unserer Anstrengungen. Trotz eines fünf Wochen währenden Angriffs hatten wir den Gipfel noch nicht bezwingen können. Und dabei trennten uns noch ganze zwei Kilometer Luftlinie von ihm. Die Marschroute war natürlich etwas länger; denn der Gebirgskamm krümmte sich an dieser Stelle wie ein langgezogenes S.
Jeden Tag war mit dem Monsun zu rechnen. In der Ferne, unterhalb der Südgipfel, die schroff zur bengalischen Ebene abfallen, verdichteten sich bereits die ersten milchig-flammigen Wolken. Unser letztes Lager, das elfte, lag unmittelbar hinter dem Grat auf einer schrägen Felsplatte, die jäh oberhalb des Zemugletschers abbrach.
Ich möchte Ihnen nicht erzählen, was wir bis zu dieser Zeit durchgemacht hatten. Damit Sie aber wenigstens einigermaßen verstehen können, was nachher geschah, muß ich Ihnen erklären, in welcher Verfassung wir uns alle befanden. Selbstverständlich litten wir, einer wie der andere, unter der beginnenden Bergkrankheit. Am schlimmsten waren die im Schlafsack verbrachten Nächte, wenn man vor Kälte erstarrte und immer wieder aus Luftmangel aufwachte. Bei völliger Ruhe zählten wir ungefähr hundert Pulsschläge in der Minute. Und dann die Appetitlosigkeit! Wir aßen, weil wir wußten, daß man essen muß. Das erschwerte Atmen in einer Luft, die fast nur noch ein Drittel des normalen Sauerstoffgehaltes besitzt, wurde zur fast unerträglichen Qual. Zu all dem kam noch der langsame Wechsel des psychischen Zustandes, der sich erst nach und nach bemerkbar machte. Anfangs wird man apathisch. Selbst die leichteste Arbeit, zum Beispiel das Sammeln von Schnee für das Kochwasser, war mit einer ungeheuren Willensanstrengung verbunden. Das Aufsuchen eines Lagerplatzes, das Feuermachen unter dem kleinen Herd, das Trocknen der Schuhe – alles geschah mechanisch, als ob man zu einem Automaten geworden sei. Erst dann, wenn es frühmorgens auf dem noch ungebahnten Wege weiterging, wenn man sich wieder bewußt wurde, daß noch nie eines Menschen Fuß diesen Grat betreten hatte, dann war es, als würden in unserem Innern die letzten Reserven frei … und dann spürte man wieder etwas Mumm in den Knochen.“
Ich machte eine Pause, denn der Mund war mir trocken geworden. „Um sechs Uhr morgens, als die Morgendämmerung eben den Himmel rötete, brachen wir auf. Außer dem Rucksack mit der Thermosflasche, einigen Tafeln Schokolade und Vitaminkonzentrat trugen wir die Eispickel, Haken und einen ziemlich großen Vorrat an Seil mit uns. Der Schnee knirschte unter unseren Sohlen. Als ich mich noch einmal umwandte, sah ich unsere beiden Gefährten, die vor dem Zelt
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