Der Planet des Todes
Kantschugletscher hinab. Er hatte eine Art engen Durchgang frei gemacht.
An dieser Stelle neigte sich der Pilz zur Seite. Gut fünf Meter lange Eiszapfen hingen in dichtem Spalier von seinem Hut herab. Dort mußten wir hindurch. Ich ging voran, mit gebeugten Knien und gesenktem Kopf, um nicht an das Dach zu stoßen. Zwischen den Eiszapfen schimmerte der Himmel herein. Noch einige vorsichtige Schritte, und der Tunnel war zu Ende. Vor uns lag etwas Schwarzes. Meine Augen waren noch von dem Blitzen und Funkeln des Eises geblendet. Es dauerte längere Zeit, ehe ich sie wieder zu öffnen vermochte. Nun merkte ich, daß im Grat eine breite Spalte gähnte. Absteigen konnte man verhältnismäßig leicht; drüben jedoch erhob sich eine kleine Wand, besser gesagt, eine nicht hohe, aber steile Schwelle. In den Alpen wäre sie ein Kinderspiel gewesen; hier dagegen, wo an ein einfaches Hinaufziehen mit den Händen kaum gedacht werden konnte, bildete sie ein ernstliches Hindernis. Ich blickte mich um und suchte nach einer Möglichkeit, den Spalt zu umgehen. Aber es gab keine. Auf der einen Seite des Zemugletschers drohten Lawinenhänge und auf der anderen – senkrechte Felsrippen mit einem überhängenden flachen Schneebuckel. Erik blieb neben mir stehen. Wortlos schob er mir seinen Rucksack mit den Haken zu. Zwei Stunden brauchten wir, um die kleine Wand zu bewältigen. Sie war von einem Schnee bedeckt, der mir keineswegs gefiel. Von unten sah man ihn kaum; denn er lag nur auf den schmalen Bändern, über die er da und dort wie ein weißer Besatz herabhing. Er überzog die ganze Wand wie ein Spinngewebe und war lose wie Mehl. Nicht den geringsten Halt gab er. Die Haken erklangen unter dem Hammer mit einem langen tiefen Ton, der um so kürzer und höher wurde, je weiter wir das Eisen in den Stein trieben. Meine rechte Hand verwandelte sich allmählich in einen gefühllosen Klumpen. Ich spürte nur noch mein Herz, das qualvoll vergrößerte, würgende Herz, das die ganze Brust mit harten Schlägen ausfüllte. Um zwölf Uhr kletterte ich über die obere Grenze des Schattens und ließ mich auf der höchsten Stelle der Wand nieder. Erik hatte ein um etwa fünf Meter tiefer gelegenes Band zum Aufstieg gewählt.
Unter mir – das unermeßliche, stille, scheinbar unbewegte Luftmeer. Auf seinem Grunde – die gesprungene, zerrissene, von einzelnen Schneefeldem bedeckte, erstarrte Flut des Gletschers. Oberhalb des Passanramgletschers erhob sich wie eine Felseninsel im Ozean das furchtbare Massiv des Siniolch über den Nebel. Der Schnee auf seinen Steilhängen brach als gezackte Linie unter den Gipfeln ab. Im Rhythmus unseres Pulsschlages schien das riesige Gebilde von Felsen, Wolken und Eis um uns zu schwanken.
Neben mir rollte Erik mit langsamen, bedächtigen Bewegungen das Seil zusammen. Ich betrachtete gerade den nackten Gipfel des Siniolch, als ein Zittern über seine Wände lief. Die riesige Schneezunge, die die tiefste Scharte ausfüllte, richtete sich plötzlich auf, neigte sich zurück, verharrte einen Augenblick in dieser Lage und rutschte dann mit einer unheimlich wirkenden Langsamkeit lautlos den Steilhang hinunter. Gleich danach versperrte ein Vorhang von Schneestaub die Sicht. Und dahinter brodelte es auf. Eine Lawine schob sich immer rascher in die Tiefe, bis sie die Nebelschleier, die über den Tälern hingen, zerriß und verschwand. Hoch droben funkelte hell und klar das alte Eis der leergefegten Hänge. Eine Sekunde lang war es ruhig – dann quoll auf dem gegenüberliegenden Hang weißer Rauch empor wie von einer Explosion. Eine zweite Lawine ging nieder, nach ihr eine dritte und dann noch eine. Sie stürzten in den Nebel und rissen ihn in Fetzen. Erst jetzt drang das dumpfe Poltern an unser Ohr. So lange Zeit hatte der Schall gebraucht, um die Entfernung zu überwinden. Das Donnern wurde stärker, fing sich in den Seitentälern und kehrte als Widerhall zurück. Über den Nebelfetzen stieg eine Wolke von feinstem Schneestaub auf, und plötzlich spannte sich ein ungeheurer Regenbogen über den Abgrund. Erik stand neben mir. Wie gebannt blickten wir in die Tiefe. Endlich raffte er sich als erster auf. Wir hatten wenig Zeit, wir mußten weiter; es ging dem Gipfel des Kantsch zu. Von dieser Stelle aus beschrieb der Grat einen gewaltigen Bogen. Da der Wind ständig von der Seite her wehte, war der Schnee allmählich über den Grat gekrochen und zu weit über den Abgrund hinausragenden Wächten angewachsen, die an den
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