Der Portwein-Erbe
Abend zu essen,
denn während der Metrofahrt hatte er beschlossen, die Zeit auch als eine Art Urlaub zu begreifen. Er bog in die Rua de Passos
Manuel ein und stand nach wenigen Schritten vor dem »Residencial«, das ihm eine Kollegin empfohlen hatte. »Der Charme der
Sechziger«, so |49| hatte sie es beschrieben, doch es war mehr Art déco, mit tropfender Klospülung. Er schlief eine Stunde, duschte und machte
sich mit einem Buch über Wein und Anbautechniken unter dem Arm auf die Suche nach Dr. Pereiras Kanzlei. Sie waren erst am
nächsten Tag um 8.30 Uhr verabredet, doch er erkundete den Weg lieber vorher. Er fand sie in einem herrschaftlichen Gebäude
an einem riesigen Platz der Avenida dos Aliados, schräg gegenüber vom Paços do Concelho, dem Rathaus. Die Nähe zur Politik
war Nicolas immer verdächtig, er fürchtete dieses Geflecht aus wechselseitigen Abhängigkeiten, rein materiellen Beziehungen
und gegenseitigem Belauern. Wenn Friedrich mit derartigen Leuten zusammenarbeitete, Baubehörde, Staatssekretäre, Liegenschaftsamt,
dann war Friedrich auch ein Hollmann. Hatte er sich in ihm getäuscht? Verunsichert schlenderte er zum »Majestic«.
Das Erste, was am neuen Morgen in sein Bewusstsein drang, waren die Schreie der Möwen. Möwen in der Stadt? Es dauerte einen
Moment, bis er sich erinnerte, dass Porto an der Mündung des Douro und damit direkt am Atlantik lag. Er hatte es gestern in
der Stadt gerochen, diesen Hauch von Salz und Tang. Seit Hassellbrinck ihm bei der Weinprobe erklärt hatte, dass man eigentlich
mit der Nase schmeckte, roch er an allem und stellte fest, dass es mehr unangenehme Gerüche gab als angenehme. Er sah auf
die Uhr, sprang aus dem Bett und zog sich noch im Fahrstuhl die Krawatte zurecht. Die heruntergelassenen Jalousien hatten
ihm das Gefühl gegeben, dass es noch Nacht war, dabei musste er in zehn Minuten bei Dr. Pereira sein. Aber an dessen Stelle
empfing ihn die Englisch und Portugiesisch durcheinanderbringende Sekretärin.
»
Eu sinto muito
, es tut mir schrecklich leid,
I am sorry
. Wir konnten Sie nicht benachrichtigen, wir haben Ihre Telefonnummer nicht und wissen nicht, wo Sie abgestiegen |50| sind. Doutor Pereira musste heute dringend nach Lissabon. Er kommt natürlich für Ihre Auslagen auf, solange Sie hier in Porto
auf ihn warten müssen.
Perhaps he calls you tomorrow
, vielleicht ruft er Sie morgen schon an.«
Darauf hatte man ihn vor der Reise hingewiesen: Portugiesen sagen niemals Nein, es gilt als unhöflich, und man erhält auf
diese Weise die Hoffnung am Glimmen.
Nachdem er der jungen Frau seine Mobilnummer gegeben hatte, frühstückte er im »Café A Brasileira« und machte sich danach auf
den Weg zum Fluss. Er wollte auf die andere Seite, nach Vila Nova de Gaia, zu den
shippers
, den Portweinhäusern. Eigentlich brauchte er nur der Topografie des Geländes zu folgen, sie zog ihn unweigerlich in Richtung
Douro.
Eine Weile sah er den Bauarbeiten für das Schienenbett der Straßenbahn zu. Es lag extrem dicht an den Hauswänden. Die Bewohner
würden ihre Freude haben, wenn die Straßenbahn einen Meter an der Haustür vorbeifuhr. Er erinnerte sich an Lissabons Straßenbahnwagen,
die kreischend durch die Altstadt ratterten. Die hier angewandte Gleisbautechnik war neu für ihn, da wurden Betonplatten mit
bereits eingelassenen Schienen vom Tieflader gehoben und eine nach der anderen hintereinander im Straßenbett versenkt, Fertigteile
eben, Module wie überall, der Plattenbau eroberte die Welt.
Der Bahnhof von São Bento kam ihm bekannt vor, und als er die Kachelbilder mit dem Schlachtengetümmel in der Bahnhofshalle
sah, erinnerte er sich, dass er damals von hier aus nach Pinhão gefahren war, wo Friedrich ihn abgeholt hatte. Es wäre schön,
wieder mit dem Zug am Flussufer hinaufzufahren, auf dem offenen Perron zwischen den Wagen zu stehen, doch mit dem Auto war
er beweglicher, außerdem hatte er die schweren Weinbücher im Gepäck. Zudem wusste er nicht, wo er übernachten würde. Die Quinta
lag weit weg von jeder Ortschaft, und Friedrich war |51| damals eine endlos lange Schotterstraße zur Quinta hinaufgefahren. Immer neue Bruchstücke seiner Reisen tauchten auf und fügten
sich zusammen – aber ein geschlossenes Bild ergab sich nicht.
Die Kathedrale da Sé ließ Nicolas unbeachtet, die Tour durch die monumentalen Kunstwerke von Évora, Lissabon, Coimbra und
Mafra hatte er damals hinter sich
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