Der Portwein-Erbe
gebracht. Heute ging es nur um Friedrich. In der Rua das Flores, einer Gasse, die in Richtung
Portweininstitut führte, verschlug es ihn ins Antiquariat »Chaminé da Mota«. Mit einigen Kunstbänden und einem Bildband über
die Witwe Dona Antónia Ferreira, die im 19. Jahrhundert eine portugiesische Portweindynastie begründete, trat er zwei Stunden
später an die Kasse. Vom Text verstand er kein Wort, aber die Stiche, Fotografien und Faksimiles von Dokumenten erzählten
auch eine Geschichte. Das Buchpaket, sicher mehr als fünf Kilo schwer, wollte er auf dem Rückweg abholen.
Im ruhigen Schritt des Flaneurs schlenderte Nicolas durch die Altstadt Portos. »Die Stadt ist die Realisierung des alten Menschheitstraums
vom Labyrinth. Dieser Realität geht, ohne es zu wissen, der Flaneur nach«, hatte Walter Benjamin einst geschrieben, und so
fühlte sich Nicolas an diesem Vormittag – wie in einem Labyrinth. Er empfand die Stadt als freundlich und offen, aber auch
ein wenig irre. Romanik, Gotik, ein gemäßigter, nicht so überladener Barock, der Mischmasch des Manuelinismus und ein wenig
Renaissance, dazu Jugendstil und etwas Art déco. Porto war keine vom Bombenkrieg zerstörte Stadt wie Frankfurt und Berlin,
dafür stand sie vor dem Verfall.
Nicolas wunderte sich über den Zerfall der Bausubstanz im alten, tiefer liegenden Teil Portos, über vernagelte Eingänge und
tote Fensterhöhlen in eigentlich leicht zu renovierenden Jugendstilfassaden. Die aus Regenrinnen und einbrechenden Dächern
sprießenden Bäume machten ihn |52| fassungslos, hatten aber durchaus einen Reiz, wenn er sich vorstellte, wie ein winziger Samen Bodenplatten anhob und Häuser
zum Einsturz brachte. Andererseits war es für einen Architekten schmerzhaft, derartige Werte zerfallen und sie durch Käfighaltung
ersetzt zu sehen wie in den Vorstädten.
Direkt an die Abbruchhäuser grenzten renovierte ehemalige Patrizierhäuser mit Boutiquen und Schmuckläden im Erdgeschoss. Ganz
unauffällig hatte sich die äußerlich völlig schmucklose Kirche Igreja da Misericórdia in die Häuserflucht gezwängt, wo er
einige Minuten verschnaufte und die Stille genoss.
Als er auf die Straße trat, sah ihn ein Passant erstaunt an, verlangsamte seinen Schritt, blieb stehen, sah sich nach Nicolas
um, kam zögernd zurück und sagte etwas auf Portugiesisch. Das einzige Wort, das Nicolas verstand, war »Ollmann«. Damit war
zweifellos er gemeint. Der Passant, ein gut gekleideter 40-Jähriger, grüßte zuvorkommend und fragte etwas Unverständliches.
Als Nicolas ihm auf Englisch antwortete, dass er zwar Hollmann heiße, ihn aber nicht verstehe, ging der Fremde ebenfalls ins
Englische über und entschuldigte sich in einem Wortschwall.
»Ihr Aussehen hat mich an einen Geschäftsfreund erinnert, Chico Alemão, das ist ein Winzer, oben am Douro.«
Nicolas begriff rasch, dass es sich dabei nur um Friedrich handeln konnte.
»Chico ist tot?«, fragte der Mann entsetzt, als Nicolas ihm vom Tod des Onkels berichtete. Nein, er habe nichts davon gehört,
sagte er und sprach Nicolas sein Beileid aus. Er gab Nicolas seine Karte, falls er Hilfe benötige – und erkundigte sich, wie
es auf der Quinta weitergehe, ob Dona Madalena die Geschäfte weiterführe oder ob man verkaufen wolle. Bevor er antworten konnte,
verabschiedete sich der Mann bereits wieder und eilte weiter. Nicolas blickte ihm verwundert nach.
Wie vor den Kopf geschlagen ging er weiter, verwirrt |53| davon, in dieser fremden Stadt angesprochen zu werden von jemandem, der Friedrich gekannt hatte. Wieso hatte er ihn Chico
Alemão genannt? War Dona Madalena Friedrichs Frau? War er doch verheiratet gewesen? Nicolas erinnerte sich nicht, dass der
eilige Fremde seinen Namen genannt hatte, und er schaute auf die Visitenkarte: Rui Barbosa,
Agrónomo
. Er blickte auf und fand sich auf einem Platz mit einer Markthalle wieder, wie sie zur vorletzten Jahrhundertwende aus Frankreich
in alle Welt exportiert worden waren. Etwas Ähnliches hatte er sogar in Manaus am Amazonas gesehen. Jetzt konnte er sich erklären,
wieso ihn die abbruchreifen Häuser so faszinierten. Entsprachen sie in ihrer Vergänglichkeit nicht seinem Faible für schrottreife
Autos? Ihre Wahrheit zeigte sich im Zerfall.
Gegenüber der Markthalle führten Granitstufen zum Portal eines klassizistischen Flachbaus. Nicolas las IVDP auf der draußen
angebrachten Tafel und begriff, dass er vor dem
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